Blutschwestern
Grübeleien. Heute war ein guter Tag, das alljährliche Fest zu Ehren der Göttin stand bevor.
Er |271| wollte sich die Vorfreude auf Salas Fest nicht durch düstere Gedanken verderben.
Außerdem musste er sich beeilen, wenn er sich nicht wieder eine Rüge seines Ziehvaters Tojar einhandeln wollte, der es nicht
gerne sah, wenn er umherstreifte und die Zeit vergaß. Degan bemühte sich redlich darum, seine Eltern nicht zu verärgern, aber
es fiel ihm schwer. Er liebte es einfach zu sehr, durch Engil zu streifen, sich mit seinen Freunden zu treffen und die Zeit
zu vergessen. Er beschleunigte seine Schritte, denn das schlechte Gewissen plagte ihn. Als er um die Ecke des Königshauses
bog, des Hauses, in dem er aufgewachsen war, erblickte er Lin, die es sich auf ein paar Webdecken im Garten gemütlich gemacht
hatte und damit beschäftigt war, eines seiner Hemden mit Bellockfasern zu flicken. Degan erinnerte sich, dass er sich den
Ärmel beim Ringkampf hatte abreißen lassen.
Als Lin ihn sah, blickte sie auf, und ein Strahlen trat in ihre Augen. Wie immer sah sie reizend aus. Dunkles, in leichten
Wellen fallendes Haar umrahmte ihr Gesicht, und Lins Mund schien immer zu lächeln. Degan fand, dass Lin wie eine hübsche Puppe
anmutete. Als sie Kinder gewesen waren, hatte er sie oft damit aufgezogen und Lin zum Weinen gebracht. Jetzt, wo sie beide
erwachsen waren, sah Lin noch immer lieblich und kindlich aus. Sie war zweifelsohne das freundlichste und hübscheste Mädchen
in ganz Engil. Degan hockte sich neben sie, eine Angewohnheit, welche er hatte, seit er ein Knabe war, und sah ihr zu, wie
sie das Hemd mit sauberen Stichen vernähte.
»Du sollst doch nicht die Arbeiten der Dienerinnen verrichten, Lin. Zerfetzte Hemden gehören nicht zu den Aufgaben der späteren
Königin von Engil«, neckte er sie.
Lin legte das Hemd beiseite. »Die Dienerinnen kommen kaum nach, deine Hemden zu flicken.« Sie blickte ihm ohne Vorwurf und
voller Vertrauen in die Augen. »Vater und Mutter haben nach dir gesucht. Ich glaube, du wirst dir eine Rüge einfangen … die
dritte in zwei Tagen.«
|272| Degan seufzte. Er fürchtete sich zwar nicht vor den Rügen seiner königlichen Zieheltern, doch sie waren ihm unangenehm. Immerhin
bemühte er sich redlich, seinen Pflichten nachzukommen, seit sie ihm gesagt hatten, was sie von ihm erwarteten; dass er ihre
leibliche Tochter Lin im nächsten Sommer zur Gefährtin nahm und einst die Nachfolge auf dem Thron Engils mit ihr antrat. Degan
wollte sich ihren Wünschen beugen; sicherlich beneideten ihn seine Freunde um die Aussicht, die hübsche, sanfte Lin zur Gemahlin
zu bekommen, doch Degan verschloss sich innerlich vor dieser Vorstellung. In Lin gab es weder Böses noch Falsches, und er
wusste, dass sie ihn liebte und sich sehr darauf freute, seine Gefährtin und Königin zu werden. Alle liebten Degan! Er war
ebenso begehrt bei den engilianischen Mädchen, wie Lin es bei den Jünglingen war, denn er war groß und hatte ein schönes Gesicht;
manche meinten sogar, er sei gar zu makellos für einen Mann. Aber Degan kannte nur zu gut auch den Teil in seinem Innern,
den er vor den Anderen verbarg: seine unstillbare Lust nach Frauen, die ihn nachts in die Schenken oder auf die Lager der
Dienerinnen trieb. Er musste sie nicht lange dazu überreden, die meisten Frauen begehrten ihn. Dafür dankte er Sala, denn
seine Geduld im Werben um ein Mädchen besaß Grenzen. Wenn seine Lust zu groß wurde, dachte er kaum noch daran, Zärtlichenkeiten
auszutauschen … es ging nicht um Zärtlichkeit oder Liebe. Oftmals ging er nicht besonders zartfühlend mit den Mädchen um,
es war nur ein Trieb, dem er folgte, wenn er zu ihnen ging, und viel zu oft geriet er in Zorn, den er nur durch äußerste Beherrschung
im Zaume halten konnte. Seine Familie und seine Freunde kannten ihn als einen lebensfrohen, freundlichen jungen Mann, doch
Degan wusste es besser. In ihm gab es etwas, das selbst er nicht verstand. Vielleicht hätten ihm seine leiblichen Eltern etwas
darüber erzählen können. Doch er kannte sie nicht, er wusste nicht einmal, wer sie waren.
Eine Dienerin hatte ihn einst als Säugling zu Ilana und Tojar gebracht, und das Königspaar hatte ihn aufgezogen wie einen |273| eigenen Sohn. Er hätte dankbar dafür sein sollen, dass sie ihm, der niedrig geboren war, ihre Tochter und somit Engil anvertrauten,
aber Degan fürchtete sich davor, Lin zu enttäuschen
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