Blutschwestern
schläft! Die Schjacks, sollte es noch welche geben, verstecken sich. Die
Waldfrauen haben uns keine dunklen Prophezeiungen mehr überbracht.«
Ilana erhob sich, und Tojar tat es ihr gleich. »Du solltest eine Nacht über das Gehörte schlafen. Viel zu viel musstest du
heute erfahren, mein Sohn!« Sie sprach die Worte voller Wärme und aufrichtiger Liebe. »Morgen werden wir überlegen, was zu
tun ist. Ich muss gehen und Liandra beruhigen. Ich glaube nicht, dass diese |303| Greifin eine ernsthafte Gefahr darstellt, doch ich habe sie auch nie zu Gesicht bekommen.«
»Sie ist wunderschön«, sagte Degan, ohne darüber nachzudenken, dass Lin bei ihnen war. Ilana überhörte seine Worte und gab
Lin ein Zeichen, sich ebenfalls zu erheben. Sie kam langsam auf die Beine und vermied es, Degan anzuschauen. Erst als Degan
sich verabschiedete, trafen ihre Blicke ihn, und einen kurzen Moment empfand er Mitleid für sie. Sie war vielleicht diejenige,
welche die Wahrheit am schlimmsten getroffen hatte. Trotzdem konnte er keinen klaren Gedanken mehr fassen. Degan verließ,
so schnell er konnte, die Gemächer seiner Eltern. Er musste allein sein, um darüber nachzudenken, was er nun tun sollte.
Xiria streckte vorsichtig die Schwingen aus, von denen sie nun wusste, dass sie durchaus nützlich waren. Sie erlaubten es
ihr, sich in den Himmel zu erheben und all das Neue und Unbegreifliche von oben zu betrachten. Etwas war mit ihr geschehen,
von dem sie nicht wusste, was es war. Dinge, die ihr vorher nicht bewusst gewesen waren, rauschten durch ihren Kopf und warfen
Fragen auf, die nach Antworten verlangten. Hätte sie doch nur eine Möglichkeit gehabt, mit all dem, was sie umgab, in Verbindung
zu treten. Den ganzen Abend und die gesamte Nacht hatte sie die leisen Gespräche von Pärchen belauscht, die es sich immer
wieder unter dem Baum gemütlich gemacht hatten, in dessen Geäst sie sich versteckt hielt. Zuerst hatte Xiria nichts von ihren
Lauten verstanden, doch bald erkannte sie Sinn hinter den Wörtern. Liebe war eines der ersten Wörter gewesen, das sie mit
einem Gefühl in Verbindung zu bringen vermochte. Noch immer sah sie das Gesicht Degans vor ihren Augen, fühlte seine Lippen
auf ihrem Mund … Ja, sie fühlte! Auch wenn sie nicht verstanden hatte, was er von ihr wollte, so verstand sie es jetzt. Liebe!
Welch ein unglaubliches Gefühl die Liebe doch sein musste, hatten ihr die vereinigten Pärchen unter ihr gezeigt; ihr Lachen,
ihr Stöhnen, ihre Berührungen, wenn sie Haut |304| an Haut dalagen. Noch vor kurzer Zeit hätte sie den Sinn hinter dem, was sie da unten miteinander taten, nicht verstanden,
doch seit Degan ihre Lippen berührt hatte, war das anders. Alles war anders! Sie vermochte sowohl Begehren als auch Abneigung
zu empfinden, Schmerz und Trauer … all jenes war so neu für Xiria, dass sie kaum wusste, wohin mit all diesen seltsamen Eindrücken,
die sie zu schütteln schienen; und doch war sie begierig darauf, mehr zu sehen, zu erfahren … zu fühlen und alles zu begreifen.
Als Xiria schließlich genug von der Liebe gesehen hatte, war sie um die Häuser der Menschen geschlichen und hatte durch die
Fensteröffnungen gespäht. Sie waren so viel schöner und freundlicher, als ihr Haus es gewesen war. In einem der Häuser brachte
eine Frau einen kleinen Menschen auf sein Ruhelager, das viel bequemer aussah als der Haufen Stroh, auf dem sie geschlafen
hatte. Sie drückte ihm eine Puppe in die Hand.
Mutter
hatte der kleine Mensch gesagt und seine Arme um die Frau geschlungen, die seine Umarmung erwidert hatte.
Xiria überlegte eine Weile und stellte einen Bezug zu dem Wesen
Mutter
her, das ihr Nahrung und Wasser gebracht hatte. »Mutter«, flüsterte sie leise vor sich hin und spürte ein neues Gefühl in
sich aufkommen, das sie noch nicht ganz verstand. Ihr Leib schien zu brennen, und ihre Hände begannen zu zittern, als sie
diese zu Fäusten ballte. Wie viel angenehmer wäre es gewesen, wenn
Mutter
sie auf ein Ruhelager gebettet und die Arme um sie gebreitet hätte. Stattdessen hatte sie ihr wehgetan. Warum? Es war das
erste Mal, dass sie das Wort Mutter mit einem Gefühl in Zusammenhang brachte, ein Gefühl von Wärme, Geborgenheit und Schutz.
Doch
Mutter
hatte ihr nichts von all dem gegeben. Die Frage nach einem Warum wurde von Xirias aufpeitschenden Gefühlen verdrängt. »Mutter«,
sagte sie erneut, doch dieses Mal spie sie das Wort aus und
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