Blutschwestern
sie Engil noch nicht verlassen hatte. Wie verwirrt ihre ungeliebte Tochter über
die von Degan erweckten Gefühle war, konnte Liandra nur ahnen. Hätte sie doch früher von Degan gewusst, sie hätte Xiria weit
fort gebracht.
Sie zwang sich dazu, nicht mehr über diese Dinge nachzudenken. Es war zu spät, Xiria durfte Engil nicht verlassen. Etwas in
Liandra wusste, dass Xiria ebenso wenig bereit wäre, Degan aufzugeben wie er sie. Er hatte ihr Gefühle geschenkt, wie verworren
diese auch sein mochten. Der Wind strich über ihren Körper und fuhr durch das gewebte weite Priesterinnengewand. Hätte sie
früher von Degan gewusst, hätte sie auch nur geahnt, wer er wirklich war – vielleicht hätte sie Xiria tatsächlich retten können,
als sie noch ein Kind gewesen war. Doch nun war sie trotz ihrer Gefühle nicht viel mehr als ein Raubtier. Sie hatte nicht
gelernt, mit Menschen umzugehen, sie hatte niemals beigebracht bekommen, wie man sich anderen Lebewesen gegenüber verhielt
– sie hatte niemals den Unterschied zwischen Gut und Böse kennengelernt. Xiria war eine unberechenbare Gefahr für jeden, dem
sie über den Weg lief. Die Hohepriesterin ging hinüber zur Mauer und blickte in die Tiefe. Es war dumm, alleine hierher zu
kommen – und es war gefährlich. Sie wandte sich um und wollte zurück zum Tempel gehen, als sie einen starken Luftzug im Rücken
spürte, der sie erstarren ließ.
Liandra fuhr herum. In diesem Augenblick schrumpfte ihr gesamtes Leben zu einer einzigen verabscheuungswürdigen Schande zusammen.
Sie war gekommen! In Greifenmanier hockte sie nackt auf der Mauer und sah sie aus ihren blauen Augen an, die das erste Mal
nicht kalt und ausdruckslos waren, sondern glühenden Zorn verhießen.
»Xiria«, sagte Liandra nur, da sie Zeit gewinnen wollte.
»Mutter«, antwortete Xiria, und Liandra erkannte in diesem Moment, dass es bereits zu spät war. Der Tonfall, in dem Xiria
ihr das Wort entgegengespien hatte, ließ die Priesterin erkennen, dass Xiria nur ihretwegen zurück zum Tempel gekommen war.
|308| »Lass es mich dir erklären, Xiria, damit du es verstehst«, versuchte Liandra sie zu beruhigen.
»Xiria versteht … viel … nun«, vernahm Liandra zum ersten Mal zusammenhängende Worte aus dem Mund ihrer Tochter.
»Dann musst du auch verstehen, dass ich dich nicht hasse. Ich weiß, dass du mich hassen musst, jetzt nachdem Degan bei dir
war. Doch ich bitte dich, mich anzuhören.« Liandras Bitte war eindringlich gewesen, doch Xiria ließ sich nicht beeindrucken.
In Windeseile hatte sie die gehörten Worte in ihrem Kopf aufgenommen und antwortete: »Xiria hasst Mutter! Wollte hören immer
Mutter. Mutter wollte Xiria hören nicht!«
»Ich höre dich nun«, sagte Liandra leise, doch da hatte Xiria schon ihre Schwingen gespannt und kam wie ein wunderschöner
Raubvogel auf sie zu. Ehe Liandra auch nur einen Schritt hätte tun können, hatte Xiria sie gepackt und zog sie hinauf in die
Luft. Liandra strampelte mit den Beinen und schrie, als die Klauen der Schwingen sich schmerzhaft in ihre Schultern bohrten,
das Fleisch durchstießen und ihre Knochen zerquetschten. Heiß fühlte sie Blut aus ihrem Körper quellen, während Xiria sie
immer höher zog.
Ein anderes Bild, eines, das sich vor über zwanzig Jahresumläufen in ihr Herz gebrannt und es zu Eis hatte erstarren lassen,
flammte vor Liandra auf, als wäre es erst gestern geschehen; der Greif, der Baum … die Schande!
»Xiria, bitte hör mir zu!«, schrie Liandra der Tochter entgegen. Sie musste doch verstehen, was geschehen war! Jetzt, da sie
zu fühlen verstand, wollte Liandra ihr erklären, weshalb sie die Tochter verabscheut hatte. Xiria hörte sie nicht oder wollte
sie nicht hören. Liandra schloss die Augen und wusste, dass ihr Leben vorüber war.
Sala, vergib mir
, sandte sie ein letztes Stoßgebet aus, dann gaben die Klauen ihre Schultern frei, und Liandra fiel. Der Wind streifte ihr
Gesicht kühl und mitleidlos. Einmal hatte sie einen Sturz überlebt, doch sie wusste, dass es dieses Mal keine Rettung gab.
|309| »Xiria! Verzeih mir!«, schrie sie, bevor ihr Körper auf dem Tempelhof aufschlug.
Degan hatte gegen die Müdigkeit anzukämpfen versucht, doch der Weinkrug, den er sich von einer Dienerin hatte bringen lassen,
zeigte seine Wirkung. Nach allem, was heute geschehen war und was er erfahren hatte, fühlte er sich noch verlorener als sonst.
Ein Gesandter Salas sollte er
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