Blutschwestern
sich ihre Schultern, und sie wandte
sich wieder Ilana und Degan zu. Ihre Stimme war fest und gefasst, als sie endlich antwortete: »Xiria ist meine Tochter! Sie
ist meine Schande, die ich versteckt halte seit jenem Tag vor vielen Sommerwenden, als die Greife in Engil einfielen und einer
von ihnen mich schändete.«
»Du hast eine Tochter von einem Greif? Und sie ist auch ein Greif? Ein weiblicher Greif?«, fragte Ilana, noch immer bemüht,
die Ungeheuerlichkeit von Liandras Geheimnis zu begreifen.
»Als sie geboren wurde, hoffte ich noch, dass sie ein Mensch sein würde, denn es gibt keine weiblichen Greife. Ich hoffte,
meine Schande verborgen im Tempel Salas aufzuziehen und sie später zur Priesterin auszubilden. Nie sollte sie erfahren, dass
ich ihre Mutter war. Doch als sie drei Sommer alt wurde, fing es an, und ich erkannte, welch grausames Schicksal mich getroffen
hatte. Aber töten konnte ich sie nicht.« Liandras Mund umspielte ein weicher Zug, der jedoch schnell wieder verschwand. »Sie
war meine Tochter, egal, was sie auch war. Also habe ich mit den Priesterinnen die Hütte gebaut und sie dort eingesperrt.
Ich habe versucht, etwas Menschliches in ihr zu erwecken, doch sie war wie
sie
– kalt und gefühllos mit einem von Muruk vergifteten Herzen. Sie fühlt nichts, ihre Augen sind leer, ihr Herz ist leer!«
Degan schüttelte den Kopf. Die augenscheinliche Grausamkeit Liandras machte ihn einmal mehr zornig. Wie konnte sie behaupten,
Xiria besäße keine Gefühle! Eine Mutter, die ihre eigene Tochter wie ein Tier in einer Hütte hielt, schien ihm weitaus gefühlloser.
»Und doch sah ich furchtbare Angst in ihren Augen! Xiria ist nicht so, wie du es behauptest. Sie fühlt!«
Liandra ließ ein verächtliches Geräusch hören. »Nun, mein dummer junger Prinz. Ich habe keine Ahnung, was du mit ihr getan
hast, aber es kann nichts Gutes daraus entstehen!«
|297| Nun sah Ilana die Hohepriesterin schuldbewusst an. Sie erkannte als Einzige die Tragweite dessen, was Degan getan hatte, da
sie wusste, wer ihr Ziehsohn wirklich war. Angst begann ihre Kehle zuzuschnüren. »Liandra! Nachdem du deine Schande letztendlich
vor mir ausbreiten musstest, wäre es wohl an der Zeit, dir und auch Degan die Wahrheit zu sagen. Vielleicht verstehen wir
dann, was geschehen ist.«
Liandra betrachtete mit einem Male Degan – seine makellosen Gesichtszüge, seine Größe, seinen geschmeidigen Körper. Sie musterte
ihn aufmerksam, mit neu erwachtem Interesse, jedoch auch furchtsam; als Degan seine Mutter ansah, wusste er, dass es ein Geheimnis
gab, das sie wahrscheinlich nie zu lüften bereit gewesen wäre, wenn das Geschehene sie nicht in diesem Augenblick dazu gezwungen
hätte. Es musste etwas mit Xiria zu tun haben. »Mut ter ?«, fragte er deshalb. »Was meinst du damit?«
Ilanas Augen versuchten ihm auszuweichen, doch schließlich zuckte sie ergeben mit den Schultern. »Nicht hier!«, sagte sie,
an Liandra und Degan gewandt. »Tojar muss ebenfalls erfahren, was hier heute geschehen ist … und Lin hat auch ein Recht zu
erfahren, wen sie liebt.«
Degan zog sich unvermittelt der Magen zusammen. Er fragte sich, ob er wirklich hören wollte, was seine Mutter vor ihm verbarg
– was sie bereits sein ganzes Leben vor ihm verborgen gehalten hatte. Doch er spürte, dass es mit seiner Andersartigkeit zu
tun hatte, und obgleich alles in ihm gegen eine Wahrheit rebellierte, die er vielleicht gar nicht mehr erfahren wollte, folgte
er ihr und der Hohepriestern hinaus aus dem Tempel.
Keiner von ihnen sprach, während sie sich durch die Feiernden schoben, die gute Laune des Festes war für sie vorbei. Ilana
hielt Ausschau nach Tojar, doch es waren schließlich Degans scharfe Augen, die ihn inmitten der Feiernden ausmachten. Zuerst
war sein Vater wenig erfreut, sich vom Fest zurückzuziehen, da er mit ein paar seiner alten Talukgefährten ausgiebig dem Wein
zugesprochen |298| hatte; doch ein Blick in Ilanas Augen ließ ihn seinen Ärger vergessen, und er entschuldigte sich bei seinen Freunden. Lin
fanden sie nicht auf dem Fest, doch als sie das Haus des Königspaares erreichten, saß Lin dort im Garten über eine Webarbeit
gebeugt. Degan wich ihrem Blick aus. Sie hatte geweint, aber niemand schien sich darum zu kümmern. Ilana forderte ihre Tochter
ungewohnt streng auf, mit ins Haus zu kommen. Schließlich, als sie alle in Tojars und Ilanas Gemächern versammelt waren, seufzte
die
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