Blutschwestern
behandelt, wie es ihr gemäß war! Sie besaß keinerlei Gefühle,
sie besaß nichts Menschliches – keine Wärme, kein Mitleid. Sie war wie ein Stein. Und nun hast du ihr Empfindsamkeit geschenkt.
Sie wird nicht nur mich für alles verantwortlich machen. Sie wird lernen zu verstehen und zu begreifen. Sie wird die Menschen
hassen!«
»Mich nicht«, gab Degan trotzig zu verstehen. »Ich habe ihr nichts getan.«
»Natürlich nicht«, entgegnete Liandra zornig. »Verstehst du immer noch nicht, dass Sala dir ihr Licht für Engil und die Menschen
gegeben hat – nicht für die Greife, welche sie verrieten und auf Seiten Muruks gekämpft haben? Die Greife sind aus gutem Grund
verflucht worden.«
»Ich verstehe, wer ich bin und dass auch ich belogen wurde. Du fürchtest dich vor ihrer Rache, Hohepriesterin«, erwiderte
Degan.
Liandra verschränkte die Arme vor der Brust und schüttelte den Kopf. »Den Tod fürchte ich nicht – nicht mehr. Aber ich fürchte
die Rückkehr Muruks und seines dunklen Reiches. Xiria muss |301| sterben, bevor sie wirklich begreift, was mit ihr geschehen ist. Noch ist sie dumm, noch hat sie nicht gelernt. Ich habe sie
von allem Menschlichen ferngehalten, ihren Verstand nicht genährt. Es wird eine Weile dauern, bis sie gelernt hat zu denken.
Diese Zeit müssen wir nutzen. Wir müssen sie suchen und töten.«
»Niemals!«, fuhr Degan sie an. Er konnte nicht verstehen, wie Liandra so etwas auch nur denken konnte. »Wenn du sie anfasst,
werde ich … ich werde …« Er hielt inne, als Liandra langsam aufstand.
»Du wirst mich töten? Ist das Gift Muruks in deinem Herzen so stark, dass Salas Licht bereits zu schwinden beginnt? Du wurdest
geboren, um Gutes zu tun.«
Er wollte etwas sagen, doch Liandra wartete keine Antwort mehr ab. Mit einem letzten vorwurfsvollen Blick in die Runde verließ
sie Ilanas und Tojars Räume. Erst als sie fort war, wagte Ilana, eine Hand auf Degans Arm zu legen. Er entzog sich ihr rasch.
»Wo sind meine leiblichen Eltern? Sind sie wirklich tot, wie ihr es mir stets erzählt habt?«
Ilana schüttelte den Kopf. »Was mit deiner Mutter geschehen ist, weiß ich nicht. Als Dawon sie damals aus Dungun fortbrachte,
meinten wir, sie sei tot. Doch als er dich eines Nachts nach Engil brachte, wusste ich, dass sie noch gelebt haben musste.
Dawon haben wir nie wieder gesehen.« Sie nickte Tojar zu, der sich erhob und aus einer Truhe einen kleinen Beutel hervorzog,
den er Degan brachte.
Degan öffnete den Beutel und fand darin eine feine Kette, so hauchdünn, dass er meinte, sie würde reißen, wenn er sie nicht
vorsichtig behandelte. An der Kette hingen drei tropfenartige Steine, gleich gefrorenen Tränen. Fragend blickte er Tojar an,
Ilana aber war es, die antwortete. »Die Tränen Salas! Die Lalu-Frauen haben sie Nona einst gegeben, um sie zu schützen, als
sie dich unter dem Herzen trug. Du hattest die Kette um den Hals, als Dawon dich zu mir brachte.«
|302| Degan schluckte. »Was … was hat mein Vater gesagt? Warum haben mich meine Eltern nicht selbst großgezogen?«
»Ich habe nicht mehr mit Dawon sprechen können. Er legte dich auf das Bett in Nonas alten Gemächern. Als ich aus der Fensteröffnung
sah, erblickte ich ihn kurz, bevor er … davonflog.«
»Warum bin ich nicht wie er? Warum habe ich keine Schwingen?«, fragte Degan zweifelnd.
»Dawon war ebenfalls nicht wie die anderen Greife. Er hatte dunkles Haar und ein menschliches Antlitz. Seine Schwingen waren
nicht weiß wie die der anderen Greife, sondern dunkel. Er war anders, er besaß Mitleid und Gefühle. Auch er wusste nicht,
weshalb er anders war, und fragte mich das ständig. Ich wusste jedoch keine Antwort darauf.«
Degan fielen seine Kindheitsträume wieder ein. Der Greif, der in seiner Fensteröffnung gesessen hatte und ihn beobachtete.
Er war nicht so hell und strahlend wie Xiria gewesen. Waren es vielleicht überhaupt keine Träume gewesen? War es sein Vater
gewesen, der ihn von Zeit zu Zeit besucht hatte? Wo war er jetzt? Warum war er irgendwann fort geblieben? Er hatte so viele
Fragen, und er verstand so wenig von dem, was mit ihm geschah.
»Wir wollten dir deine Herkunft nicht vorenthalten, Degan. Aber wir wollten dich schützen. Wir hatten gehofft, dass Muruk
nicht zurückkehren würde … und Hoffnung besteht immer noch. Seit vielen Sommerwenden haben wir keine Greife oder Priester
des dunklen Gottes mehr zu Gesicht bekommen. Dungun
Weitere Kostenlose Bücher