Blutschwestern
erkannte, dass man Worten eine andere Bedeutung geben konnte,
wenn man den Klang seiner Stimme veränderte. Überhaupt schienen auf einmal so viele Dinge Bedeutung zu haben, die sie vorher
nicht verstanden hatte.
|305| »Mutter liebt Xiria«, sagte sie leise vor sich hin und begriff die Bedeutungslosigkeit in den Worten. »Degan liebt Xiria«,
sprach sie erneut und verspürte sogleich ein warmes Gefühl in ihrem Bauch. Xiria kannte noch nicht viele Worte, und so versuchte
sie, Mutter irgendwie mit Worten zu bedenken, die treffender schienen und ein Gefühl in ihr aufkommen ließen. »Mutter liebt
Xiria … nicht!«, versuchte sie sich erneut. Zwar brachten diese Worte nicht genau zum Ausdruck, was sie empfand, doch sie
waren besser als die ersten. »Xiria liebt Mutter nicht, Xiria liebt Degan«, hängte sie einfach beide Sätze aneinander und
verstand immer besser das Prinzip der Laute. Ihr wurde klar, dass es nötig war, Dinge und Gefühle mit Lauten benennen zu können,
wenn man sie verstehen wollte. Und Xiria wollte mehr verstehen von den Lauten und den Gefühlen, und sie wusste, dass sie dafür
die Menschen beobachten musste. Doch das war nicht einfach. Sie ahnte instinktiv, dass es nicht gut wäre, sich einfach offen
vor ihnen zu zeigen. Sie waren anders als Xiria, sie besaßen keine Schwingen, und sie verhüllten ihre Körper. Zwar waren sie
Xiria ähnlich, doch sie waren nicht wie sie. Ob das gut oder schlecht war, wusste sie noch nicht, aber sie würde es herausfinden.
Sie ließ den kleinen Menschen mit seiner Mutter allein und ging zum nächsten Haus. Hier saßen ein weiblicher und ein männlicher
Mensch zusammen, und der weibliche Mensch war sehr dick um den Leib. Dass es weibliche und männliche Menschen gab, hatte sie
beim Beobachten von Liebe bemerkt, denn es waren zumeist immer ein weiblicher und ein männlicher Mensch, welche sich liebten,
und es war eine andere Liebe als die, welche mit dem Laut Mutter in Zusammenhang stand. Xiria hatte schnell begriffen, dass
es zwei unterschiedliche Arten von Menschen gab. Die einen waren ihr vom Körper her ähnlich, die anderen sahen aus wie Degan.
Sie verstand auch bereits, dass sie sich gegenseitig anzogen, um etwas zu fühlen, was sie allein nicht hätten fühlen können.
Xiria befühlte ihren Bauch. Er war glatt und flach. Als der männliche Mensch |306| seine Hand auf den Bauch des weiblichen legte und ihn sanft streichelte, erkannte sie einmal mehr, dass auch dies irgendetwas
mit Liebe zu tun haben musste. Liebte er die Frau wegen des runden Bauches? Xiria fand ihn nicht schön, doch sie wirkten so
verbunden. Sie dachte an den kleinen Menschen, der von seiner Mutter umarmt worden war. Vielleicht war ja in diesem kugeligen
Leib ein kleiner Mensch? Und vielleicht liebte man kleine Menschen einfach, weil sie so klein waren? Wo kamen sie her? Wie
machte man sie … und warum? Xiria meinte zu glauben, dass der männliche Mensch etwas mit dem runden Bauch zu tun hatte. Sie
dachte an die Pärchen, die sich der Liebe hingegeben hatten. Auch da hatte der männliche Mensch etwas mit seiner Gefährtin
getan, allerdings nicht mit ihrem Bauch.
Xiria schüttelte den Kopf. Es war zu früh, das alles verstehen zu wollen, doch sie würde es bald verstehen. Im Augenblick
jedoch fühlte sie nur das Brennen in ihrem Körper, das auch ihren Hals zuzuschnüren schien – immer dann, wenn sie an
Mutter
dachte. Xiria war das Brennen so unerträglich, dass sie es bekämpfen musste. »Mutter«, sagte sie erneut und blickte hinüber
zum Tempel, in dem sie gelebt hatte. Es war dunkel, und wenn sie ihre Schwingen benutzen würde, käme sie sehr schnell wieder
dorthin zurück. »Mut ter tut Xiria weh«, suchte sie nach den richtigen Worten und drehte sie dann um, wie sie es für sich gelernt hatte. »Xiria tut
Mutter weh!« Diese Worte lösten ein wenig die Spannung in ihrem Innern und ließen sie sich besser fühlen, da sie richtig und
gut erschienen. Xiria schwang sich in die Luft und ließ den Tempel nicht aus den Augen, während sie ihn anflog.
Liandra zwängte sich durch den kleinen Durchgang zum Tempelhof und schlang fröstelnd die Arme um ihren Leib. Die Hütte war
leer. Xiria war fort. Ihre Augen suchten den Nachthimmel ab, doch natürlich konnte sie nichts erkennen. Liandra empfand eine
Mischung aus Angst und böser Vorahnung. Sie musste Xiria töten, sobald sie |307| gefunden war, und sie war sich sicher, dass
Weitere Kostenlose Bücher