Blutschwestern
da, wenn ihr Geist sich klärte. Männer
mochte ein kräftiger Weinrausch helfen, doch so sehr sie sich auch nach Vergessen sehnte … sie musste etwas unternehmen.
Müde schloss Lin die Augen und sah unzählige Lichtpunkte hinter ihren geschlossenen Lidern tanzen. Ihr war schwindelig. Was
sollte sie tun? »Sala, ich bitte dich, sprich mit mir«, flüsterte sie, und tatsächlich erhielt sie eine Antwort, jedoch nicht
von der Göttin, sondern von Nona, die unbemerkt zu ihr getreten war. Wie immer erschien sie makellos in ihrer seltsamen Erscheinung,
die Hitze machte ihr nichts aus, sie brauchte kein Wasser, keine Nahrung und keine Kühlung. Obwohl Lin wusste, dass es Unsinn
war, nahm sie der Lalu-Frau ihre Überlegenheit insgeheim übel, denn |385| sie fühlte sich durch den Anblick von Nonas ruhiger Gelassenheit nur noch hilfloser.
»Der Tag ist gekommen, Lin. Du musst jetzt gehen und tun, was dein Schicksal von dir verlangt.«
Lin richtete ihre Augen auf die Lalu-Frau. Obwohl ihr Nona noch immer fremd war, überfiel sie beinahe Erleichterung, dass
sie ihr die Entscheidung abnahm. »Ich werde Degan suchen.« Ein seltsames Gefühl überkam sie, als Nona unvermittelt die Hand
nach ihr ausstreckte. Der Gedanke, von Nona berührt zu werden, befremdete sie. Doch anstatt Lin zu berühren, ließ sie etwas
in ihre Hand gleiten. Lin wusste sofort, was es war. Ihr Atem stockte, sie betrachtete es ehrfürchtig. »Das sind die Tränen
Salas. Sie gehören Degan.«
»Sie gehören nun dir. Du wirst sie brauchen … für dich und für ihn.« Nona lächelte, aber dann wurde ihr Gesicht ernst. »Wenn
die Tränen Salas zerstört sind und die Letzte von uns Lalu-Frauen fort ist, wird Muruk, der dunkle Gott, den Sieg davongetragen
haben. Die Lalu-Frauen wurden vernichtet. Sala hat zu mir gesprochen. Auch die Große Zauberin, die einst ihre Tochter Ragane
war, ist tot – ich bin die Letzte.«
Lin sah sie entgeistert an. »Woher weißt du das … und wer war es?«
»Xiria … die Greifin hat sich dem neuen Kriegsherrn des Muruk angeschlossen. Er will die Greifin benutzen, um Degan zu bekommen.
Außerdem suchen sie nach den Tränen Salas – und sie suchen auch nach mir. Du darfst die Tränen nicht verlieren – sie enthalten
das Licht unserer Göttin, sie dürfen nicht in die Hände von Xiria oder dem Kriegsherrn fallen.« Nonas Stimme war klar und
sanft wie immer, jedoch konnte Lin den tiefen Ernst in ihr spüren. »Des halb hat Sala geschwiegen, Lin. Sie wollte nicht, dass ich bei meinen Schwestern bin, wenn sie vernichtet werden. Es muss immer
eine Lalu-Frau geben – wenigstens eine.«
»Was wirst du nun tun?«, fragte Lin mit aufkeimendem Mitleid. |386| Auch wenn Nona sie befremdete, empfand sie den Verlust der Lalu-Frauen als grausam und kaum vorstellbar. Nur wenige Engilianer
hatten jemals eine Lalu-Frau zu Gesicht bekommen, doch zu wissen, dass sie Salas Licht hüteten, hatte den Menschen stets Trost
und Sicherheit gespendet. Nun waren sie fort – ebenso wie Degan. Salas Licht schwand langsam oder sicher aus ihrer Mitte.
Wenn Nona um ihre Schwestern trauerte, so zeigte sie es nicht. »Ich werde mit Dawon zusammen sein … er ist in Sicherheit bei
den Waldfrauen, und er wartet auf mich … und du musst gehen. Geh einfach, Lin, mach dich auf den Weg, sag es niemandem … Die
Zeit drängt. Ich weiß, dass Degan Gefahr läuft, das Licht in seinem Herzen zu verlieren. Nur du kannst das verhindern.«
Lin setzte zu einer weiteren Frage an, aber es dauerte nur einen Windhauch, bis Nona verschwunden war. Benommen blickte Lin
sich um. Und nun? Wohin sollte sie gehen, wo sollte sie nach Degan suchen? Nona hätte ihr mehr erzählen müssen. Sie war keine
Seherin, sondern eine Hohepriesterin Salas, die von der Göttin abgelehnt wurde. Erneut überkamen sie Zweifel. Warum verlangte
Nona so etwas von ihr? Was konnte sie allein schon ausrichten gegen die dunklen Mächte. Es war ungerecht! Erstmals verstand
sie Degans Zorn auf sein Schicksal. Wer hatte ihn gefragt, ob er dieses Schicksal wollte … Wer hatte Lin gefragt?
Sie betrachtete die hauchdünne Kette mit den drei Tränen in ihrer Hand und legte sie schließlich an. Die Kette war so fein,
dass Lin ihr Gewicht kaum auf der Haut spürte. Dann erhob sie sich und betrachtete zweifelnd die Schale mit Früchten. Schließlich
nahm sie die Schale hoch und lief mit ihr aus dem Garten des Königshauses, den Hügel hinunter und durch die
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