Blutschwestern
Tempelstadt.
Gehen, Engil verlassen! War das so einfach? War es so einfach für Degan gewesen, einfach alles hinter sich zu lassen?
Lin schüttelte die schwermütigen Gedanken ab.
Hör endlich damit auf, dich selbst zu bemitleiden
, rief sie sich selbst zur Ordnung. Sala hatte es verlangt, sie hatte Nona gesagt, was Lin tun sollte; Lin |387| würde ihnen beweisen, dass sie kein ängstliches kleines Mädchen mehr war. Sie musste einfach nur gehen. Und wann sollte es
einfacher sein als jetzt? Braam und die Priesterinnen dachten, sie wäre nach Hause gelaufen, die Dienerin dachte, sie würde
ihre Früchte im Garten genießen …
Ilana hatte nach Lin gesucht, nachdem sie aus der Unterstadt zurückgekehrt war, wo sie den Streit zwischen zwei zerstrittenen
Talukfamilien geschlichtet hatte, die sich gegenseitig bezichtigten, Schafe und Ziegen der jeweils anderen Familie gestohlen
zu haben. Bei Streitigkeiten flammte das Herz der ehemaligen Krieger noch immer auf, und Ilana war müde gewesen, als sie in
ihr Haus zurückgekehrt war. Lin war weder in ihren Räumen noch im Garten gewesen, was ungewöhnlich war, zumal die Priesterinnen
ihr gesagt hatten, dass ihre Tochter den Tempel bereits um die Mittagsstunde verlassen hatte. Zuerst hatte Ilana sich nicht
allzu viele Gedanken gemacht, doch mittlerweile ging es gen Abend, und Lin war noch immer unauffindbar. Ilana hatte sogar
eine wichtige Unterredung Tojars mit dem Vorsteher der Unterstadt unterbrochen, was sie normalerweise vermied, doch auch er
hatte Lin an diesem Tag noch nicht gesehen.
Mittlerweile war Ilana aufgebracht und erinnerte sich an die Worte Nonas. Eine leise Ahnung schlich sich in ihr Herz, und
sie verfluchte sich selber dafür, dass sie sich nicht vehementer gegen Lin durchgesetzt hatte. War ihre Tochter wirklich so
dumm, sich vollkommen alleine auf die Suche nach Degan zu begeben?
Als Ilana die Tür ihrer Gemächer hinter sich schloss, wusste sie, dass Lin genau das getan hatte. Nona erwartete sie bereits,
gleich einer Erscheinung stand sie an der Fensteröffnung und sah hinaus. Wenn die Lalu-Frau sich freiwillig in einen abgeschlossenen
Raum begab, konnte das nur auf ein wichtiges Anliegen hindeuten. Ilana verschränkte die Arme vor der Brust, ihr war auf einmal
kalt.
»Ich werde euch nun verlassen, Ilana. Dawon wartet auf mich. Ich kann nicht länger in Engil bleiben.«
|388| »Weißt du, wo Lin ist?«, fragte Ilana, ohne auf Nonas Worte einzugehen.
Die Lalu-Frau wandte ihr das schimmernde Gesicht zu. »Ich habe sie geschickt, Degan zu suchen. Die Lalu-Frauen wurden vernichtet
… aber sorge dich nicht. Sie trägt Salas Tränen, die sie beschützen werden.«
Ilana glaubte ihren Ohren nicht zu trauen. Diese Worte konnten nicht von Nona stammen – nicht von der besonnenen Lalu-Frau,
die einst ihre Kriegerin und Gefährtin gewesen war. Hatte sie aufgegeben, war sie verrückt geworden? »Nona, du hast unseren
letzten Schutz einfach in Lins Hände gegeben? Wenn es stimmt und du die Letzte der Lalu-Frauen bist, wenn die Greifin Muruk
dient und Degan sie sucht und wenn Lin Degan sucht … dann führen alle Wege nach Dungun. Bald hat Dungun alles – den Auserwählten,
meine Tochter und Salas Tränen. Dann kann Muruk erstarken! Was hast du dir nur dabei gedacht?« Ilanas Stimme bekam einen hysterischen
bis vorwurfsvollen Ton, von dem sich Nona jedoch nicht beeindrucken ließ. »Die Entscheidung, ob Salas Licht weiter auf Engil
leuchten wird, liegt allein bei Degan. Lin muss tun, was ihr bestimmt ist. Es gibt noch etwas, das du wissen musst – der Kriegsherr,
der jetzt für Muruk in Dungun kämpft … du und Tojar, ihr kennt ihn. Sein Name ist Mador.«
Ilana konnte nicht mehr an sich halten. Schmerz, Trauer und Unverständnis über Nonas Tun schnürten ihr die Kehle zu. Der Name
desjenigen, der sie und Tojar einst so hinterhältig verraten hatte, entflammte ihr Herz wie glühende Kohlen. »Du hast meine
Tochter in den sicheren Tod geschickt – ich dachte, du seiest meine Freundin, Nona!«
»Das bin ich, Ilana … du musst mir vertrauen. Lin ist stark. Sie ist deine und Tojars Tochter.«
Ilana schüttelte den Kopf. Sie hatte zu gut in Erinnerung, wie sehr Degan Lin abgelehnt hatte. »Geh einfach … ich will dich
in Engil nicht mehr sehen … ich habe dir vertraut, Nona.«
|389| »Ilana, vertrau mir bitte auch weiterhin.«
Wieder schüttelte sie den Kopf und richtete den Blick auf die grauen
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