Blutschwestern
Seine Stimme klang weder fürsorglich noch besorgt. Vielmehr gab sie Lin zu verstehen, dass er sie als Störenfried
und Eindringling in seinem neuen Leben betrachtete.
»Ich habe dich gesucht, Degan. Du musst mit mir nach Engil zurückkehren. Braam versucht, Engils Thron an sich zu reißen.«
Degan schüttelte matt den Kopf. »Ich werde nicht mehr nach Engil zurückkehren, Lin. Dein Weg war umsonst.«
Xirias Beine verdeckten Lin die Sicht, als sich die Greifin zwischen sie und Degan stellte. »Sie ist eine Menschin«, erklärte
Xiria, nun zornig geworden.
»Sie ist harmlos«, wehrte Degan unwillig ab. »Ohne Bedeutung!« |406| Degans Worte trafen Lin tief, doch sie spürte die gefährliche Eifersucht der Greifin.
»Gut!«, entgegnete Xiria zufrieden. »Die Menschin hat etwas, was Mador will. Xiria muss es ihm bringen.«
Unwillkürlich fuhr Lins Hand zu der Kette an ihrem Hals, und Degan brummte unwillig: »Sie ist meine Schwester, Xiria. Lass
sie gehen!«
»Schwester?«, fragte Xiria misstrauisch geworden, denn sie kannte dieses Wort nicht und verstand nicht, was Degan damit sagen
wollte. Sie spürte nur, dass er die Menschin verteidigte, und ein ungutes Gefühl stieg in ihr auf. Sie erinnerte sich an Dawon,
der sie wegen einer Menschenfrau abgewiesen hatte, und fast gleichzeitig dachte sie an Madors Worte.
Beobachte ihn … wenn sein Herz dir gehört, wird sie ihm gleichgültig sein!
Sie war ihm nicht gleichgültig. Heiße Wellen von Zorn schienen ihren Körper und ihren Verstand zu verbrennen, als sie sich
umdrehte und Lin grob an den Haaren hochzog.
Lin stieß einen spitzen Schrei aus und taumelte auf die Füße. »Degan!«, rief sie in angstvoller Verzweiflung. Ihre Stimme
schien tatsächlich kurz durch seinen verschleierten Verstand zu dringen.
»Ich will nicht, dass du sie anrührst, Xiria!«, stieß er hervor und spürte das erste Mal seit langem den alten Zorn wieder
in sich aufsteigen, der Xirias in nichts nachstand.
Xirias und Degans Blicke vergruben sich förmlich ineinander, und selbst Lin erkannte, dass dieser Augenblick gefährlich war.
Sie verhielt sich still und versuchte, ihr Zittern zu unterdrücken, so gut es ging.
»Xiria bringt die Menschin zu Mador. Er will ihre Kette!« Sie wies auf Lins Hals, und Degan runzelte die Stirn, als er Salas
Tränen erkannte. Seine Blicke schienen sie vorwurfsvoll anzusehen, doch er widersprach Xiria nicht noch einmal.
»Bring ihm die Kette und lass sie dann gehen!«, forderte er. »Sie ist von meiner Sippe, und sie …«
|407| »Ist Degan ein Greif oder ein Mensch?«, schnitt ihm Xiria das Wort ab.
Degan schaute sie an, nicht wissend, was er antworten sollte, ohne Lin nicht zu gefährden. Xiria war aufgebracht, und er wusste,
dass sie ungezügelt und wild sein konnte. »Ich bin beides, aber ich habe mich entschieden! Wäre ich sonst bei dir?«, erwiderte
er schließlich.
Sie betrachtete ihn noch eine Weile, dann endlich schien sich Xirias Blut abzukühlen. Sie packte Lin um die Taille und sprang
mit ihr vom Turm, ohne dass Lin noch etwas hätte sagen können. Degan stützte sich auf den Rand der Umfassungsmauer und sah
ihnen nach. Xiria hatte Lin nicht fallen lassen, sie trug sie zurück zum Boden. Erleichtert atmete er auf, doch das erste
Mal, seit Xiria ihn nach Dungun gebracht hatte, fühlte er sich wie ihr Gefangener.
Xiria packte Lins Handgelenk und schleifte sie hinter sich her in den düsteren kleinen Tempel, der von einem einzigen Feuerbecken
beleuchtet wurde. Lins Knie zitterten noch immer, doch sie wagte nicht, sich zu wehren. Salas Tränen glühten auf ihrer Haut,
sie wusste nun, dass die Hitze keine Einbildung gewesen war. Die Tränen begannen immer dann zu glühen, wenn Muruks böse Macht
ihnen zu nahe kam.
Warum hatte Nona sie nur geschickt, Degan zu suchen? Nun war es zu spät. Lin steckte mitten im bösen Herz des dunklen Gottes.
Der Hohepriester war groß gewachsen, von muskulöser Statur und einem Gesicht, das nicht recht zu einem Priester passen wollte.
Lin meinte, die Gesichtszüge der Taluk in seinem wiederzufinden, als Xiria ihr einen Stoß versetzte und sie vor seinen Füßen
auf die Knie fiel.
»Salas Tränen«, vernahm sie seine Stimme, und seine große Hand streckte sich nach ihrem Hals aus, um ihr die Kette zu entreißen.
Doch er wich zurück, als hätte ein Schjack ihn gebissen. Auch Lin |408| spürte den Schmerz an ihrem Hals. Salas Tränen wehrten sich gegen Muruk und die
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