Blutschwestern
Lager und ließ sie allein.
Nona schloss die Augen. Die helle Stimme der Göttin vernahm sie in ihrem Kopf:
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Dies sind die Verkündungen Salas, der Göttin des Lichts, die das Dunkel besiegen wird, welches sie heraufbeschworen hat. In
Asche habe ich das verfluchte Land Mengal verwandelt, auf dass es nichts mehr hervorbringe als die Schreie und die Gebeine
der Gefallenen. Verflucht habe ich Ragane, meine Tochter, die ihr Herz vergiften ließ, und die Greife, welche verräterisch
und schändlich gegen mich waren. Dunkel habe ich über die Menschen von Dungun gebracht und Elend über die Menschen von Engil.
Der Zorn meines dunklen Gemahls hat mich verführt, und so gelang es ihm, mich Böses tun zu lassen. In ewigem Streit stehe
ich mit Muruk, und die Menschen müssen ihn austragen. Die Verkündungen wurden ausgesprochen und können nicht zurückgenommen
werden. Doch wie Muruk der Gott alles Dunklen ist, so bin ich noch immer die Göttin des Lichts, und so vermag ich noch immer,
den Menschen einen Funken Licht zu senden und ihnen die Hoffnung zu geben, ihr Schicksal zum Besseren zu wenden.
So höret nun meine Weisungen, damit ihr euch aus dem dunklen Bann Muruks befreien möget. Dereinst wird ein Greif geboren,
der anders ist als die anderen. Seine Augen werden nicht tot sein; vom dunklen Fluch des leeren Herzens, welcher die Greife
ereilt hat, soll er verschont bleiben. Dieser Greif, ihr Menschen, ist eure Hoffnung und euer Licht. Möget ihr dies erkennen,
denn ich kann das Dunkel, welches Muruk euch gebracht hat, nicht von euch nehmen. Kein Greif, kein Mensch, keine Königin wird
seinen Bann brechen können, doch ein Knabe, nicht Mensch, nicht Greif, nicht König, mit reinem Herzen, unberührt von Muruks
und Salas Fluch, hervorgegangen aus jenem Halbmensch und einer erhabenen Frau, soll euch das Licht zurückbringen. Schützt
ihn, den Vater und den Knaben, denn er ist eure einzige Hoffnung, die vergifteten Herzen der Menschen Dunguns wieder mit Licht
zu füllen. Haltet die Königin von Dungun davon ab, gegen ihre Schwester zu kämpfen, und der Tod Tjamas soll vergeben sein,
ebenso wie die Tat Raganes verziehen. Den bösen Bann Muruks jedoch, der die Herzen erkalten lässt, vermag nur der Knabe
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zu brechen. Seine Liebe muss es sein, die den Hohepriester Dunguns, den schändlichen Sohn Muruks, zur Strecke bringt.
Tut, was ich euch geheißen, und der Fluch Muruks und Salas soll endlich von euch genommen werden. Mein Licht soll erneut leuchten,
die Wälder von Mengal sollen wieder leben, und die Greife sollen nicht länger verflucht sein.
Nona hörte die Worte der Göttin in ihrem Kopf nachklingen. Wie sollte sie dies alles auf ihren Schultern tragen? Wie sollte
sie Dawon beschützen und gleichzeitig Akari davon abhalten, gegen Ilana zu kämpfen? Das Herz der Königin war vergiftet, und
nur einem Knaben, der weder gezeugt noch geboren war, sollte die Aufgabe anheimfallen, die dunkle Herrschaft Muruks zu beenden.
Eine unüberwindliche Aufgabe, welche die Göttin den Menschen gestellt hatte – und doch musste sie lösbar sein, denn sonst
hätte Sala sie nicht bei der Quelle Isnals zurückgelassen. Nona wusste nicht, wie sie es schaffen sollte, Akari zu überreden,
nicht gegen Ilana zu kämpfen, doch vielleicht wohnte noch ein letzter Funken Liebe zu Ilana in ihrem Herzen, den es zu wecken
galt. Nona erkannte in diesem Augenblick, dass dieser Weg für sie bestimmt war. Dawon war zu kostbar und musste geschützt
werden. Sie dachte an sein kindlich-freundliches Gemüt, hinter dem sie stets Hintertriebenheit und List vermutet hatte. Es
tat ihr leid, ihn so schlecht behandelt zu haben. Doch wie hätte sie um seine Bestimmung wissen sollen?
Kurz überlegte Nona, ob sie ihm die Wahrheit sagen sollte und ihm die Prophezeiung Salas offenbaren, doch sie befand, dass
es zu früh dafür war. Dawon musste sofort nach Engil zurückkehren, wo er in Sicherheit wäre. Nona fühlte sich einsam wie nie
zuvor. So viel lastete nun auf ihren Schultern. Sie musste Dawon irgendwie dazu überreden, allein nach Engil zurückzukehren
und Ilana klarzumachen, dass sie keine Truppen gegen Akari zusammenziehen durfte. Nona hoffte, dass Ilana ihr vertrauen würde
und sich gegen Liandra durchzusetzen vermochte, die sicherlich weiterhin auf sie einredete, |93| endlich mit den Vorbereitungen für die Schlacht zu beginnen. Und Dawon? Eine erhabene Frau sollte sein Kind empfangen. Wer
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