Blutschwestern
rief verzweifelt: »Ich schaffe es nicht, Dawon. Ich kann
nicht mehr!«
»Nona muss kämpfen, Dawon kann nicht zu ihr kommen, doch |88| er hört sie. Nona ist nicht mehr weit vom Eingang der Höhle entfernt. Sie muss kämpfen!«, vernahm sie Dawons Stimme viel deutlicher
als zuvor. Dieser Umstand verlieh ihr die Kraft, sich erneut aufzuraffen und sich Stück für Stück weiter zu schleppen. Nicht
nur wegen der Schmerzen war der Weg zurück mühseliger, denn er stieg an, und Nona liefen die Tränen über die Wangen.
Dann endlich konnte sie Licht erkennen. Nona zwang sich, ihre letzten Kräfte zusammenzunehmen. Kurz bevor Dawon sie packte
und aus dem engen Schlund der Höhle zog, ergab sie sich ihrer Ohnmacht. Angenehme Schwärze umflutete sie, und dann war es
ihr, als würde sie fliegen, weit und hoch fliegen, über den Wäldern von Isnal, über den Kronen der Bäume, kühlen Wind in ihrem
Gesicht. Es war ein nie gekanntes ergreifendes Gefühl, die Weite von Isnal vom Himmel aus zu betrachten.
|89| Salas Prophezeiung
Lange lag Nona in einem traumlosen Schlaf, aus dem nur vereinzelt Worte und Bilder an sie herandrangen. Einmal erkannte sie
die beiden alten Waldfrauen, die ihr einen bitteren Kräutertrank an die Lippen hielten, der sie in ihrer Schwärze wie ein
Feuer zu verbrennen schien. Ein anderes Mal tauchte die fürchterliche Fratze des Schjacks vor ihr auf, und dann wieder sah
sie Dawon, der mit traurigem Blick neben ihr hockte und ihr Gesicht mit weichen sanften Händen berührte. Nona konnte Tag und
Nacht nicht unterscheiden, und sie schwitzte, dann wieder zitterte sie vor Kälte. Dunkle Träume suchten sie heim, und immer
wieder sah sie den Schjack vor sich, die grässliche Kreatur des dunklen Gottes. Erst als sie eines Morgens die Augen aufschlug,
das Tageslicht von der geöffneten Tür sie blendete und sie die krächzende Stimme der Waldfrau vernahm, wusste sie, dass sie
noch lebte.
»Die ungestüme Kriegerin ist erwacht«, krächzte die Alte und hielt ihr einen Becher mit einem widerlich schmeckenden Gebräu
an die Lippen.
Nona wollte sich weigern, zu gut erinnerte sie sich an das Feuer, das sie in ihren Träumen fast verbrannt hatte, als die Alte
ihr den Trank eingeflößt hatte. Doch die Waldfrau zwang sie zu trinken.
»Trinke, Kindchen, trink, soviel du kannst davon. Dieser Trank wird das verfluchte Schjackgift aus deinem Körper treiben.
Die Zähne der Schjacks sind faulig und verdorben. Sie haben dein Bein vergiftet. Aber der junge Greif hat dich schnell genug
zu uns gebracht, so dass wir dich und auch dein Bein retten konnten. Wäre |90| der Greif nicht gewesen, würdest du längst in Muruks dunklem Reich weilen«, stellte sie ungerührt fest.
Nona versuchte sich aufzusetzen, unterließ es jedoch, als ein greller Schmerz durch ihr Bein fuhr. Stöhnend sank sie zurück
auf das Lager. Dann war es also doch kein Traum gewesen. Sie war tatsächlich geflogen und hatte die Wälder von Isnal gesehen.
Dawon hatte sie zu den Waldfrauen zurückgebracht und ihr erneut das Leben gerettet. Sein Gesicht leuchtete kurz vor ihrem
inneren Auge auf, wie er traurig bei ihr gesessen hatte. Obwohl sie diese unsinnigen Gefühle zu bekämpfen versuchte, kam so
etwas wie Dankbarkeit und Rührung in ihr auf. Dawon hatte sie mit seiner kindlichen Liebe ein zweites Mal gerettet.
»Ah, du denkst über den Greif nach, nicht wahr?«, kicherte die Alte nun, als hätte sie ihre Gedanken erraten. »Ein guter Junge,
der bald ein Mann sein wird, um seine Bestimmung zu erfüllen … und du kennst sie nun, nicht wahr, Kriegerin? Du hast die Prophezeiung
von Sala gesehen. Sie ruht in deinem Herzen.«
Ohne überlegen zu müssen, erinnerte sich Nona an jedes Wort von Salas Prophezeiung. »Ja, ich kenne sie, ich weiß nun, was
zu tun ist«, antwortete sie wahrheitsgemäß. »Wir müssen …« Die Alte legte ihr einen krummen Finger auf den Mund, wie um ihre
Lippen zu verschließen. »Diese Prophezeiung ist nicht für uns, Kriegerin der Göttin! Sie wurde dir offenbart, und an dir ist
es nun, sie zu erfüllen!«
»Das kann ich nicht! Sie ist zu gewaltig für einen einzigen Menschen, zu gewaltig für jemanden wie mich … Wer bin ich denn
schon?«, versuchte Nona zu widersprechen.
Doch die Alte winkte ab. »Wenn es nicht gelingt, wird die Dunkelheit Muruks die Menschen für immer umklammern«, antwortete
sie. Dann stellte sie den Becher mit dem Kräutergebräu neben Nonas
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