Blutschwestern
Nona ihr Ende vom Boden aus nicht erkennen konnte.
Ihren Stamm hätten zehn ausgewachsene Männer nicht umfassen können, und ihre Rinde war ebenso hell wie ihr Holz. Früher, bevor
Sala die großen Wälder von Mengal in die schwarze Wüste von Melasan verwandelt hatte, waren sie zahlreich gewesen. Doch nun
wuchsen sie nur noch an der Quelle von Isnal. Nona bedauerte dies bei ihrem Anblick. »Werden sie wohl durch die Quelle genährt,
dass sie nur noch hier wachsen?«, hatte sie Dawon gefragt, der jedoch schon wieder abgelenkt war, da ihn der Duft der Bellockbäume
faszinierte.
»Nona muss den Duft der Bäume riechen. Süß ist er und weich und lieblich, wie Blüten« schwärmte er, während er Nona heranwinkte.
»Nona soll kommen und es selber spüren.«
Da sie fürchtete, dass er keine Ruhe geben würde, wenn sie es nicht versuchte, tat sie ihm den Gefallen. »Ich rieche nichts
als Rinde. Sie riechen wie alle anderen Bäume, erdig und schwer«, erklärte sie ungeduldig.
|84| »Nein, Nona, Menschin! Kann Nona es wirklich nicht riechen?«, fragte er enttäuscht.
»Ich rieche nur Rinde und Erde,« bekannte sie, während sie nach dem Eingang der Höhle suchte, von dem die Waldfrauen gesprochen
hatten. Sie entdeckte die Höhle im gleichen Felsmassiv, aus dem auch die Quelle entsprang. Sie klaffte als dunkles enges Loch
im Felsmassiv, das kaum den Durchmesser eines erwachsenen Mannes besaß. Nona musste schlucken, als ihr klar wurde, dass sie
nur auf dem Bauch liegend den langen Gang entlangrobben konnte. Einmal in der Höhle würde sie bis zum Ende kriechen müssen,
denn es gab keine Möglichkeit, sich in der Enge des Schachtes zu drehen.
»Das sind ja wunderbare Aussichten«, befand sie mit einem Blick auf das dunkle Loch im Fels.
Dawon schnupperte in den Eingang hinein. »Nona sollte dort nicht hineingehen. Schjacks waren hier. Dawon kann sie noch riechen.
Schjacks sind in die Höhle gekrochen, und da sie groß und dick sind, haben sie sich ihre Haut aufgeschürft.« Er wies auf einen
kleinen blutigen Fleck, an dem Tierhaare klebten.
Nona krampfte sich der Magen zusammen. Fieberhaft überlegte sie, was sie nun tun sollte. Schließlich dachte sie an die Blicke
Liandras, die sie mit noch mehr Verachtung strafen würde, wenn sie versagte. Vielleicht würde selbst Ilana sich von ihr abwenden
und befinden, dass sie zu nichts taugte, wenn Nona mit leeren Händen nach Engil zurückkehrte. Der Makel, ihr Schicksal nicht
erfüllt zu haben, haftete an ihr. Sie wollte beweisen, dass ihr Leben einen Sinn besaß, dass es gerechtfertigt war, dass Ilana
sich für ihr Leben eingesetzt hatte.
»Ich habe keine Wahl. Ich muss in die Höhle hinein und die Schriften von Sala finden!«
»Dawon kann Nona nicht folgen.« Der Greif spannte wie zum Beweis seine Flügel. »Dawon würde steckenbleiben!«
»Schon gut«, gab sie zu verstehen. »Warte einfach hier auf mich.« |85| Sie zog ihr Schwert und schob es vor sich in das klaffende Loch. Sodann legte sie sich flach auf den Bauch und kroch vorwärts.
Eng und stickig, wie sie es vermutet hatte, war es in dem Schacht, der etwas abschüssig nach unten führte. Langsam zog sie
sich vorwärts, immer das Schwert vor sich herschiebend. Der Schjackgestank wurde stärker, und Nona unterdrückte den aufkommenden
Würgreiz.
Eine Ewigkeit, so schien es ihr, schob sie sich den Felsgang hinunter und schürfte sich hier und da ihre Hände auf. Dann,
als sie sich ein weiteres Stück nach vorn schieben wollte, fasste sie ins Leere. Der Gang endete abrupt und schien in die
Tiefe zu führen. Nona rutschte ein Stück weiter vor und tastete hinab in die Dunkelheit. Ihre Hände erreichten nicht den Grund
der Höhle.
Was soll ich nun tun? ,
dachte sie ängstlich.
Wer weiß schon, wie tief es dort hinabgeht? Vielleicht wird diese Höhle mein Grab, und ich komme nie mehr hier heraus. Oder
ich breche mir beim Sturz das Genick und bin sofort tot!
Nona lag still und überlegte, was sie tun sollte.
Immerhin hättest du damit deine Ehre wieder hergestellt. Dieser Tod ist besser, als von Sasalors Dolch aufgeschlitzt zu werden.
Zurück kann ich ohnehin nicht.
Schließlich nahm sie allen Mut zusammen und ließ sich über die Kante des Ganges fallen. Sie hatte kaum Zeit, nach Halt zu
suchen, als sie hart und mit einem dumpfen Geräusch auf Felsengestein stieß. Nona rieb sich Arme und Beine, um den Schmerz
zu lindern. Auf jeden Fall war es nicht tief gewesen.
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