Blutschwestern
größten Sünden, die ein erdgebundenes Wesen begehen kann.
Ich ließ mich verführen und gebar ein Monster, und ich ließ mich dazu verführen, meine eigene Schwester zu töten.«
Nona spürte, wie ihr das Blut in den Ohren rauschte. Es konnte nicht sein, was die Zauberin da sagte; sie konnte nicht diejenige
sein, für welche sie sich auszugeben versuchte.
»Du bist Ragane, die Tochter Salas, die ihre Schwester Tjama getötet hat?«
Die Zauberin blickte sie in einer Art der Endgültigkeit an, die alle Zweifel aus Nonas Herz vertrieb.
»Lange habe ich meinen wahren Namen nicht mehr gehört oder selber ausgesprochen – viele tausend Jahre ist es her. Aber ja,
ich bin Ragane, die Verräterin, die Schwestermörderin und die Mutter des Monsters, das ihr Karok nennt.«
»Der dunkle Priester Dunguns, der die Herzen der Menschen vergiftet, ist dein Sohn?«
Wieder nickte die Priesterin. »Muruk hat mich nicht nur entführt, um meine Schwester zu töten. Er beherrschte mich vollkommen.
Ja, ich habe mich dem dunklen Gott hingegeben und die Kreatur Karok geboren, die wiederum die Schjacks zeugte. Mein Herz ist
voller Sünde, und ich habe Jahrhunderte und schließlich Jahrtausende um die Vergebung Salas gefleht. Und nachdem sie so lange
geschwiegen hatte, gab sie mir eine Antwort und schickte mich, ein Kind von einem Greif zu empfangen. Da wusste ich, dass
auch ich eines Tages Vergebung finden würde. Und jetzt liegt es an |174| dir und deinem Kind, die Sünden aller zu tilgen, Nona vom Volk der Menschen. Und die Tränen Salas sind alles, was ich dir
geben kann, um diese Bürde zu tragen.«
Nona schüttelte den Kopf. »Wo soll ich beginnen? Ich weiß nicht, was ich tun soll. Vielleicht kann ich dieses Kind austragen,
aber ich kann das Herz Akaris nicht befreien.«
»Akari ist die Bürde Ilanas, du musst einen anderen Weg einschlagen. Halte du die Greife davon ab, weiter für Dungun zu kämpfen.«
»Wie soll ich das tun?«, begehrte Nona auf. »Ich kann den dunklen Fluch Muruks und Karoks nicht auslöschen. Wenn du das nicht
kannst, wie soll es mir gelingen?«
»Nona von den Menschen, das Licht Salas ist bei dir, du trägst es unter deinem Herzen. Du wirst einen Weg finden. Und du musst
bald aufbrechen, denn die Greife sind bereits Richtung Engil gezogen, um es für Muruk zu nehmen.« Der Blick der Zauberin wurde
wieder offen und freundlich. »Nun kennst du meine Geschichte; und wenn du deine Aufgabe erfüllt hast, steht es dir frei, auch
eine Lalu-Frau zu werden, so wie es jeder Menschenfrau freisteht, eine zu werden, wenn sie sich entschließt, ihre Erdgebundenheit
abzulegen. Die Frauen hier sind die Königinnen von Engil, welche ihre Schlachten gewonnen haben. Sie wählten das Leben einer
Lalu-Frau, nachdem sie so viel Leid gesehen hatten. Oftmals ist es der Weg der Leidgeprüften, sich von allem Irdischen abzuwenden.«
»Und … und was geschieht mit den Königinnen Dunguns, die in ihren Schlachten siegreich sind?«, fragte Nona mit einer bösen
Vorahnung.
Die Zauberin sah sie traurig an. »Sie gebären Kinder, die Kinder des Karok, die Schjacks. Sie sterben noch während der Geburt,
weil ihre eigene Brut sie zerreißt.« Ihr Gesicht wurde milde, als sie Nonas Erschütterung erkannte. »Du wusstest es nicht,
Nona vom Volk der Menschen?«
Sie schüttelte den Kopf, und die Zauberin legte ihr eine Hand auf |175| den Bauch. »Fürchte dich nicht, Nona. Solange die Tränen Salas nicht zerstört werden, gibt es Hoffnung, und solange es Lalu-Frauen
gibt, gibt es Licht – wir sind die Hüterinnen von Salas Licht.«
Nona nickte und dachte schaudernd an Ilana, die gewiss bereits auf dem Weg nach Dungun war, um Akari zu befreien. Und sie
dachte an Dawon, von dem ihr eine Trennung nun so gut wie unmöglich erschien. Ihre Aufgabe sollte es sein, Engil zu retten.
Die Greife kamen! »Und wenn es mir nun tatsächlich gelingt, die Greife umzustimmen. Was wird aus Dawon? Wird er wieder bei
seinem Volk leben?«
Die Zauberin sah sie ernst an. »Diese Entscheidung, Nona, liegt allein bei ihm. Euer Band ist geknüpft durch dieses Kind,
doch Liebe war dabei nie vorgesehen. Vielleicht hat Dawon zu lange unter den Menschen gelebt und sich deshalb in dich verliebt.
Doch ich glaube, du solltest ihn gehen lassen, damit er frei sein kann.«
Nona schluckte ihre Trauer hinunter und nickte. Ihr war doch klar, dass Menschen und Greife nicht füreinander bestimmt waren.
Wie oft hatte sie
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