Blutsgeschwister
können.
»Versuch doch einfach«, begann Gabriel, »ich weiß nicht, ihm vielleicht wirklich in den Arsch zu treten?«
Kit dachte darüber nach. Der herumquiekende Junge, dessen Zunge sie festhielt, schien ihre Konzentration kein bisschen zu stören. Schließlich kletterte sie über den Tisch und zog den Jungen an seiner Zunge auf die Füße. Dann wirbelte sie ihn herum und trat ihm in den Hintern. Der Junge fiel zu Boden, und seine Freunde bildeten sofort einen schützenden Kreis um ihn. Kit stemmte die Hände in die Hüften und sah sie mit ihrem giftroten Lächeln an. »Und jetzt?«
»Jetzt«, sagte Gabriel, »lässt du ihn mit der Schande leben, dass er sich von einem Mädchen hat verprügeln lassen.«
»Ich kann nicht glauben, dass du auf ihrer Seite bist!«, schrie das Blitzeis-Mädchen.
Gabriel sah die Kids an und sagte ruhig: »Ihr habt alle gar keinen Grund, sauer auf sie zu sein. Sie haben nichts getan.«
Das Blitzeis-Mädchen zeigte auf Kit. »Sie hat Roberts Zunge rausgerissen!«
»Sie hat’s bloß versucht«, erinnerte Gabriel sie und wandte sich der Gruppe zu. »Aber selbst wenn sie sie rausgerissen hätte – wenn ihr auf eine Klapperschlange tretet, und sie beißt euch, wessen Schuld ist es? Muss ich euch wirklich dran erinnern, was in der Bibel steht? Darüber, dass man seine Nächsten lieben soll? Ob es euch gefällt oder nicht, die Cordelles sind unsere Nächsten, und wenn ich vergeben und vergessen kann, dann ist es ja wohl das Mindeste, was ihr auch tun könnt.«
Die Gruppe schlich zerknirscht davon und schleppte den beschämten Freund mit.
»Siehst du?« Gabriel lächelte Kit an. »Du gewinnst, und niemand wird zerstückelt.« Er zog ein Feuchttuch heraus und säuberte ihre blutige Hand.
»Also … Stehst du gar nicht auf Zerstückeln?«
»Nein.«
»Ausweiden?«
»Nicht so richtig.« Er lachte, als hätte sie einen Witz gemacht. »Ich bin echt ein langweiliger Typ.«
»Ja, irgendwie schon.« Es schien sie nicht zu stören, dass er ihre Hand immer noch nicht losgelassen hatte, obwohl sie mittlerweile makellos sauber war. »Aber das ist okay.«
Jemand läutete eine Glocke. Eine winzige Glocke mit einem höllisch hohen Läuten, das jeden auf der Lichtung zusammenzucken ließ. Jemand rief: »Es ist so weit!«
Fancy riss ihre Schwester aus Gabriels scheinheiliger Umklammerung und zerrte sie zurück zu ihrem Picknicktisch, um ihre pinkfarbenen Flaschen zu holen.
Die Flaschenzeremonie fing kurz darauf an, und die gesamte Stimmung schlug um. Der tote Mondbaum rückte in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, als sich alle um ihn herum versammelten. Die Porteraner holten grellbunte Glasflaschen hervor, in denen Zettel steckten, auf die sie ihre Wünsche gekritzelt hatten, und banden sie am Flaschenhals an die nackten Äste des Baums. Manche standen auf Leitern oder saßen Huckepack auf anderer Leute Schultern, um die höchsten Äste zu erreichen, und bald hingen an jedem Ast Flaschen, die im Sonnenlicht blitzten. Die Kinder unter fünfzehn standen ein Stück von der Menge am Baum entfernt und sahen genau zu, in ungeduldiger Erwartung des Tages, an dem sie an der Reihe sein würden.
Als die letzte Flasche hing, sah der Baum aus, als ob ein Regenbogen auf ihn gefallen wäre und sich darin verfangen hätte. Die Leute versammelten sich um den Baum, sogar um die Cordelles, und bestaunten die glitzernde Schönheit des Baums. In diesem Moment hasste Fancy nicht mehr alle. Eine ruhige Klarheit kam über die Welt und machte sie einfach und schön. Die Wespe, die an ihrem Gesicht vorbeibrummte, hatte einen feengleichen Glanz. Die Sonne verbrannte nicht ihre Haut, sondern nährte sie. Sie bebte vor Energie – wie jeder hier –, und niemand schien hasserfüllt. Vielmehr staunten alle wie Kinder, ganz egal, wie alt sie waren.
Das einzige Geräusch war das tiefe Surren der Libellen im Gras, und im Wald schrie entfernt ein Habicht. Eine sanfte Brise kitzelte die Flaschen und ließ sie schwingen. Der Wind blies mit tiefer, schwermütiger Stimme über die Flaschenhälse.
»Fancy …«
Die Stimme überraschte Fancy nicht. Es war fast so, als hätte sie sie erwartet. Allerdings schien niemand sonst sie zu hören. Nicht Madda. Nicht einmal Kit. Sie berührte ihre Schwester an der Schulter, aber Kit schien halb zu schlafen und starrte mit derselben ehrfürchtigen Versunkenheit auf den Baum wie alle anderen. Alle waren so ruhig, sie schliefen mit offenen Augen. Es war wie in einem ihrer Träume, als wäre
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