Blutsgeschwister
»Sie will, dass wir auf der Stelle rüberkommen.«
AUS FANCYS TRAUMTAGEBUCH:
Kit flog über unser Haus, die Bäume bogen sich im Wind ihrer pinkfarbenen Flügel. Jedes Mal, wenn ihr Schatten über mir schwebte, überlief es mich.
KAPITEL FÜNFZEHN
Die Schwestern fuhren mit dem Rad zu der Adresse. Das Kinetoskop lehnte unsicher in Fancys Fahrradkorb, als sie die gewundene Torcido Road entlangradelten, nur ein paar Meilen von El Camino Real entfernt.
»Glaubst du, das ist ein Schwindel?«, fragte Fancy und schwenkte hinter Kit ein, als ein Wagen sie überholte. Kühle, etwas feuchte Luft schlug ihnen entgegen. Die Sonnenstrahlen brachen unruhig durch die dicker werdenden Wolken. »Oder eine Falle?«
»Wahrscheinlich.«
»Sie weiß, dass wir wissen, was sie ihrer Schwester antun will, also … sei vorsichtig.«
Ein paar Minuten später gelangten die Schwestern auf das Grundstück der Woodsons und schoben ihre Fahrräder den steinigen Pfad hinauf.
Die Woodsons lebten in einem pfirsichfarbenen Nurdachhaus in einer netten Nachbarschaft. Es war eine Gegend, in der die Hauseigentümer ihren Glyzinien beigebracht hatten, die Außenwände ihrer Häuser zu schmücken, statt sie aufzufressen – anders als beim Haus der Schwestern.
»Jetzt wissen wir, woher sie das Gift hat«, sagte Kit, als die Schwestern auf Zehenspitzen ihre Fahrräder fast schon respektvoll an den duftenden wunderschönen Giften vorbei in den Hof schoben.
»Sogar Knollenblätterpilze«, sagte Fancy und zeigte auf die zarten, weißen Pilze, die um die Stechpalme herum im Hof wuchsen.
»Die kann sie nicht benutzt haben, sonst wäre ihre Schwester längst tot.«
Die Schwestern lehnten ihre Räder gegen die vordere Veranda. Fancy nahm das Kinetoskop aus dem Fahrradkorb.
Kit fuhr mit der Hand darüber. »Es sieht bei Tageslicht seltsam aus, oder?«
Es stimmte nicht, aber Fancy wusste, was Kit meinte: dass das Kinetoskop ein Kellerbewohner war wie sie, und sich nun inmitten der hellen Schönheit des Blumengartens der Woodsons in einem anderen Element befand.
Sie gingen zur Haustür hinauf, und Kit klingelte.
»Was willst du denn sagen?«, fragte Fancy, die darauf baute, dass Kit, wie immer, für sie beide sprechen würde.
Eine Frau – die ältere Schwester, wie sie annahmen – öffnete die Tür, bevor Kit etwas sagen konnte. Sie war eine gertenschlanke, sommersprossige Blondine mit pinkfarbenem Mund und seltsamen, nervösen Augen, die nicht länger als ein paar Sekunden auf etwas ruhen konnten. Auch nicht auf den Schwestern. Mit festem Griff, der ihre Knöchel weiß hervorstehen ließ, hielt sie eine Wasserflasche vor ihre Brust, als wäre sie ein Amulett, um Dämonen abzuwehren.
»Haben wir telefoniert?«, begrüßte sie sie.
»Klar haben wir«, sagte Kit, wieder voll im Plaudermodus. Sie tippte an ihre Schiebermütze. »Ich bin Kit, und das ist Fancy.«
»Ich bin Datura.« Sie zeigte mit der Wasserflasche auf das Kinetoskop. »Was ist das? Eine Kamera?« Der Gedanke schien sie entfernt aufzuregen – entfernt, weil sie nicht auf das Kinetoskop selbst schaute, sondern eher überall sonst hin. Ihre ruhelosen violetten Augen machten Fancy ganz schwindelig.
»Es gibt doch gar keine Kameras mehr aus Holz, also echt.« Kit lachte auf eine Art, die Datura dazu bringen sollte einzustimmen, aber sie tat es nicht. »Wir benutzen das Ding, um dein Problem zu lösen. Nachdem du uns reingelassen hast.«
Datura zögerte nur einen kurzen Moment, dann ging sie einen Schritt zurück und winkte die Schwestern herein.
Als sie eintraten, nahm Fancy den starken, süßen Geruch wahr, den Datura verströmte, als habe man sie aus ihrem eigenen giftigen Garten gepflückt.
Daturas Haus war sauber und ordentlich, das Wohnzimmer so hell und feuchtheiß wie ein Treibhaus.
Datura winkte die Schwestern zur Couch neben einem gläsernen Kaffeetisch, auf dem ein Stapel Bücher über Nachtblüher lag.
»Das sind aber wunderschöne Blumen«, zwitscherte Kit, als Datura an dem strahlend roten Oleander in einer Vase am anderen Ende des Tischs herumfummelte. »Und was für ein wunderschöner Garten! Ich habe draußen zu Fancy gesagt, dass ich noch nie so einen wunderschönen Garten gesehen habe. Du musst uns den Namen deines Gärtners geben.«
»Ich mache den Garten selbst.« Kaum war sie mit den Blumen fertig, schob Datura Fancy das Haar von den Schultern und stopfte ihr ein Kissen in den Rücken, als wäre Fancy eine welkende Blume, die besondere Fürsorge brauchte.
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