Blutsgeschwister
Mädchen. »Glaub ich sofort. Ich hab mal neben ihr gewohnt. Sie wollte unbedingt bei der Schulaufführung mitmachen, und um die Hauptrolle zu bekommen, hat sie jedem erzählt, ich hätte einen Tripper im Hals und könnte nicht singen.« Sie lächelte Fancy erwartungsvoll an. »Also, was hast du mit Annie gemacht?«
Alle hatten aufgehört zu flüstern, um zu lauschen.
»Sie hat eine Tür geöffnet«, sagte das stylische Mädchen, als Fancy nicht antwortete. »Und Annie durchgeschickt.«
»Na dann, auf Nimmerwiedersehen.«
Als sich alle darüber unterhielten, ob man überhaupt Tripper im Hals kriegen konnte, spürte Fancy, wie jemand leicht an ihrem Pferdeschwanz zog. »Mason, hm?«, flüsterte Ilan. »Ich wusste gar nicht, dass du Freunde hast.«
Fancy zog mit einem Ruck ihr Haar aus seiner Hand, obwohl es sich anfühlte, als würde sie skalpiert.
Er legte seinen Arm auf die Rückenlehne ihres Stuhls. Aber sein Arm störte sie nicht mehr. Er war sogar das am wenigsten Störende an ihm.
»Ich dachte immer, wir wären Freunde.«
Fancy befestigte ein Stück Zeitungspapier an ihrer Leinwand und schrieb:
Ich habe keine Freunde.
Ilans Hand bedeckte kurz ihre, als er ihr die Zeichenkohle abnahm und unter ihre Worte schrieb:
Du hast mich.
Fancy kam von ihrem Kurs nach Hause und fand eine Wassermelone von der Größe eines Kleinwagens auf der Veranda vor, zusammen mit einer Dankeskarte von Bill, unterschrieben mit In ewiger Freundschaft .
»Ich habe keine Freunde!«, schrie Fancy, aber sie war nicht Kit – der Wald reagierte nicht auf sie, das fröhliche Gezwitscher ging trotz ihres Wutausbruchs weiter.
Sie stürmte in ihr Zimmer und sah auf das Stück Zeitungspapier. Du hast mich. Die Worte schienen sie zu verhöhnen. Sie sollte das Papier in den Wald schmeißen und die Vögel damit ein Nest bauen und Eier drauf legen lassen, aber das tat sie nicht. Sie schob es zwischen die Seiten ihres Traumtagebuchs und weigerte sich, weiter darüber nachzudenken. Sie machte ein paar Liter Limonade, füllte sie in den milchig weißen Krug und wartete darauf, dass Kit nach Hause kam.
Sie musste nicht lange warten. »Hast du diese Monsterwassermelone gesehen?«, fragte Kit, als sie ins Zimmer hüpfte. Sie warf ihre Noten und einen Stapel Briefe auf ihr Bett und schälte sich aus den verschwitzten Klamotten. »Ich glaube, Bill denkt sich, wenn wir das alles essen, sind wir zu vollgefressen, um ihn uns dafür vorzunehmen, dass er in der ganzen Stadt über uns getratscht hat. Schlau, hm?« Sie setzte sich in ihrer Unterwäsche an den Teetisch. Pinkfarbener Spitzenkram, den Fancy noch nie zuvor gesehen hatte. Sie stellte den Plattenspieler an, spielte eine alte Ray-Charles-Platte und goss sich Limonade ein. Als Fancy immer noch regungslos auf dem Bett lag, runzelte sie die Stirn.
»Keine Sorge, Fancy. Selbst, wenn Sheriff Baker herkommt und überall herumschnüffelt – einen Scheiß würde der finden.«
»Sag nicht Scheiß.«
Kit seufzte vor Erleichterung. »Okay. Ich wollte nur sichergehen, dass du noch atmest. Warum liegst du da nur so rum?«
»Mein Kopf tut weh.« Fancy hatte sich ihr Nachthemd angezogen und beschlossen, im Bett zu bleiben, bis der Tag endlich gestorben war.
»Tja, ich habe genau das richtige Mittel gegen Kopfschmerzen. Schau, was ich im Briefkasten gefunden habe.« Sie schnappte sich einen Brief von dem Stapel auf ihrem Bett und drängelte sich zu Fancy aufs Bett. Mit Fancys Kopf auf ihrem Bauch lehnte sie sich gegen das Kissen und nahm eine handgeschriebene Mitteilung aus einem Umschlag.
Kit las laut vor:
»Hi. Ich heiße Selenicera Woodson. Ihr habt gesagt, ich soll sagen, wenn ich ein Problem habe. Das habe ich. Meine Schwester will, dass ich tot bin. Sie vergiftet mich. Sie mischt es mir ins Essen. Sie musste mich einmal in die Schule gehen lassen, als mein Bruder mit ihr vor Gericht war, und ich erinnere mich, wie echtes Essen schmeckt. Nicht wie das Zeug, das sie mir gibt. Ich will sie nicht umbringen, aber wenn ich es nicht tue, bringt sie mich zuerst um. Ich weiß nicht, warum sie mich hasst oder warum sie mich in diesem Zimmer festhält und mich nicht rausgehen lässt, wenn ich es will. Bitte helft mir. Ich würde ja meinen Bruder fragen, aber als er vor Gericht war, um das Sorgerecht für mich zu bekommen, hat er verloren. Als er ein Kind war, hat er nämlich immer Leute verprügelt, und er hatte ständig eine Menge Ärger. Aber das war nur, weil er traurig darüber war, dass unsere Eltern
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