Blutskinder
Mutter mitzuteilen, dass ihr entführtes Baby inzwischen seine Stieftochter war.
Während er die Minibar öffnete, malte er sich aus, was damals im Januar 1992 geschehen sein musste. Bei dem Gedanken an Ruby fragte er sich unwillkürlich, ob es auch in diesem Fall so etwas wie Gewohnheitsrecht gab.
Die untergehende Sonne verschwand hinter dem Wolkengebirge, das sich im Westen auftürmte. Es wird Regen geben, vielleicht sogar Sturm, dachte Robert, während er sich die Zähne mit der Bürste putzte, die er zuvor an der Rezeption erstanden hatte.
Doch nichts war ihm im Moment gleichgültiger als das Wetter. Er grübelte darüber nach, warum seine Anrufe bei Erin sofort auf ihre Mailbox umgeleitet wurden. Aber eigentlich hätte er sowieso nicht gewusst, was er ihr sagen sollte. Er klatschte sich mit beiden Händen Wasser ins Gesicht und strich sich die feuchten Haare aus der Stirn. Dann steckte er seinen Autoschlüssel ein, nahm den Zimmerschlüssel, und nachdem er sich an der Rezeption noch einen Stadtplan hatte geben lassen, verließ er das Hotel. Louisa schlief bestimmt schon, dachte er. Oder sie hatte es sich in der Badewanne oder vor dem Fernseher gemütlich gemacht.
Zwanzig Minuten später bog Robert in Windsor Terrace ein, einem schmalen Sträßchen mit winzigen roten Backsteinhäusern, die wie Bauklötzchen aneinandergefügt waren. Von dem einzigen Fenster zur Straßenseite blickte man unmittelbar in das des gegenüberliegenden Hauses. Robert bemerkte, dass vor allen Fenstern Gardinen hingen, außer vor einem. Dafür waren hier die Vorhänge zugezogen. Robert hielt nach einer Parklücke Ausschau, doch am Bordstein standen die Autos dicht an dicht. Schließlich fand er einen Platz ganz am Ende der Straße. Er schwitzte, als er wieder vor dem Haus der Varneys stand, denn die Luft war drückend und hier, zwischen den engen Häuserreihen, noch um einiges heißer als auf dem offenen Land. Robert fragte sich, wie viel die Bewohner, die hier auf so engem Raum zusammenlebten, voneinander wissen mochten. Ob die Nachbarn wohl Cheryls tragische Geschichte kannten?
Haus Nummer 18 war klein und gepflegt, aber merkwürdig steril. Vor vielen anderen Häusern hingen Ampeln mit Sommerblumen oder Balkonkästen voller Geranien. Aus den geöffneten Fenstern drangen Musik oder Stimmen aus dem Fernseher, und wie in der Straße, wo die Wystrachs wohnten, vernahm Robert auch hier Babygeschrei und das Wutgeheul eines kleinen Kindes. Doch aus diesem Haus drang kein Kinderlärm. In diesem Haus schien Traurigkeit zu herrschen.
Ohne über die Folgen seines Handelns nachzudenken und ohne dass er sich passende Worte zurechtgelegt hätte, trat Robert durch das Gartentor von Nummer 18 und klopfte an die Tür. Niemand öffnete. Es war das Haus mit den zugezogenen Vorhängen, deshalb konnte er keinen Blick durch das Fenster werfen, um zu sehen, ob jemand zu Hause war. Da es sich um ein Reihenhaus handelte, gab es von außen auch keinen Zugang zur Hintertür. Er klopfte noch einmal lauter, worauf sich die Tür des Nachbarhauses öffnete. Auf der Schwelle erschien eine Frau mittleren Alters, der ein kläffender Hund auf den Fersen folgte. Sie starrte Robert an, als habe er bei ihr geklopft.
»Die kommt so bald nicht nach Hause«, sagte sie kurz angebunden. »Rufen Sie sie an und machen Sie einen Termin aus.«
Robert wandte sich der Frau zu und stützte sich dabei auf das niedrige Mäuerchen, das die beiden winzigen Vorgärten voneinander trennte. Erst als seine Füße in die Erde einsanken, bemerkte er, dass er nicht mehr auf dem Gehweg stand. »Wissen Sie, wann sie zurückkommt?«
»Nicht so bald, wie ich schon sagte.« Die Frau trocknete sich die seifigen Hände an einem Geschirrtuch ab. »Wenn es dringend ist, finden Sie sie im ›Hirschkopf‹ weiter oben an der Straße, die in die Stadt führt. Vielleicht können Sie ja dort mit ihr reden, falls sie nicht zu beschäftigt ist.« Mit einem eigentümlichen Grinsen zog sich die Nachbarin ins Haus zurück und schloss die Tür hinter sich.
Im »Hirschkopf« war es voll, und es roch nach gebratenem Steak und Zigarettenqualm. Robert musterte die Kellnerinnen hinter der Theke und im Lokal, auf der Suche nach Ähnlichkeit mit der Frau auf dem Zeitungsfoto. Aber vielleicht würde er Mrs Varney auch gar nicht erkennen. Immerhin war das Bild dreizehn Jahre alt und zudem ziemlich unscharf, was sie betraf. Hinzu kam, dass sie sich nach all den Jahren voller Kummer und Leid bestimmt sehr
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