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Blutskinder

Blutskinder

Titel: Blutskinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sam Hayes
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machte einfach immer weiter und redete mir ein, dass Ruby eines Tages wieder gesund sein und sich in meinen Arm kuscheln würde, wenn ich mit der Arbeit fertig war.
    Ich weiß nicht mehr, an welchem Tag, zu welcher Stunde oder Minute mich wie ein Schlag die Erkenntnis traf, dass ich mein Baby nie wiedersehen würde. Ich weiß nicht mehr, was ich in jener Nacht anhatte oder welcher Freier gerade bei mir war. Es war ein bisschen so, als wenn man einen Milchzahn verliert. Man wackelt und wackelt daran herum und auf einmal ist er draußen. Nur dass bei einem verlorenen Milchzahn ein neuer Zahn nachwächst.
    Mein Wochenlohn war also, wie gesagt, oft schneller ausgegeben als verdient. Daher gewöhnte ich mir an, ein bisschen von dem Geld meiner Freier abzuzweigen, oder ich bot ihnen für einige Scheinchen mehr ein paar Extras an – Sachen, die die anderen Mädchen nicht machten. Wenn ich mein Geld besser zusammengehalten hätte, hätte ich es nicht nötig gehabt, Freda und Becco zu bestehlen, aber ab und an brauchte ich einfach ein wenig Luxus, um den Schmerz zu betäuben und mich vergessen zu lassen, dass Nacht für Nacht zehn Männer ihre haarigen Körper auf mich wuchteten. Dafür brauchte ich eben Geld – und auch für Rubys Zukunft.
    Dann fing Becco auf einmal an, mir noch mehr als sonst nachzusteigen. Er ist einfach an mir interessiert und möchte mich auch mal für sich haben, dachte ich, und bot mich ihm an. Als Antwort versetzte er mir einen Schlag ins Gesicht – es war das einzige Mal, dass er mich schlug – und heftete von nun an seine schwarzen Knopfaugen noch hartnäckiger auf mich. Sie verfolgten mich sogar bis in meine Träume.
    Die ausländischen Mädchen beobachtete er auch, doch auf eine andere Art und Weise. Mit seinen Blicken hielt er sie wie an einer langen Leine. Falls solch eine Leine einmal zu reißen drohte, hätte Becco mit Sicherheit Mittel und Wege gefunden, das betreffende Mädchen klammheimlich an einen Ort zu schaffen, den nur er kannte.
    Ich bin, wie gesagt, nicht dümmer als andere. Trotzdem brauchte ich eine ganze Weile, bis ich begriff, dass all diese Mädchen, die so schlecht Englisch sprachen, die Mädchen aus Albanien oder Serbien oder wo auch immer Becco sie aufgetrieben hatte, gegen ihren Willen festgehalten wurden. Es kann aber auch sein, dass sie gar keinen eigenen Willen mehr hatten. Als mir das klar war, wusste ich auch, dass Maggie und ich eine Art Tarnung waren, die offizielle Fassade für die Außenwelt.
    Norris starb. Nach jener ersten Nacht, die ich gemeinsam mit Maggie bei ihm verbracht hatte, war er mein Stammkunde geworden. Freda und Becco wussten, dass er nicht viel bezahlte, doch sie ließen ihn gewähren, weil er ein regelmäßiger Freier war und uns Mädchen gut behandelte. Als ich erfuhr, dass er tot war, sagte ich den beiden nichts davon. Ich ließ sie in dem Glauben, dass ich noch immer zu ihm ging und lieferte seine üblichen mageren hundertfünfzig bei ihnen ab, während ich in Wirklichkeit einen Anwalt in seinem todschicken Apartment bediente und dafür zweimal so viel kassierte. Wenn ich nicht die Grippe bekommen hätte und Maggie nicht in letzter Minute für mich bei Norris hätte einspringen müssen, wäre ich damit davongekommen.
    So allerdings gab es Ärger. In jener Nacht hing der Geruch nach Sex in der Luft, nach hastigem, verzweifeltem, gewalttätigem oder wortlosem Sex. Es roch wie der Haufen schmutzige Wäsche im Badezimmer. Es roch nach dreckigen Männern, die magere Mädchen bestiegen.
    »Das war schön blöd von dir, Milly!« Zuerst knallte Maggie mir eine und dann zeigte sie mir ihre Schenkel, die blutunterlaufen waren. »Als ich erfuhr, dass Norris tot ist, habe ich mir einen Freier von der Straße aufgegabelt. Der hat mich grün und blau geschlagen!«
    Wir prügelten uns. Sie ohrfeigte mich und spuckte mir ins Gesicht, und ich biss sie dafür. Dann heulte ich, weil sie mich an den Haaren durchs Zimmer schleifte. Großes Gekeuche, ausgerissene Haare überall, und zuletzt zerschlugen wir den einzigen Fernseher im ganzen Haus, bevor Becco kam und uns trennte. Weil er Maggie aus dem Zimmer zerrte, glaubte ich, ich hätte gewonnen. Ich glaubte, dass Becco mich lieber mochte als sie, dass ich etwas Besonderes war. Dass Maggie wirklich tot war, konnte ich jedoch nicht glauben – später, gegen Morgen, als ich durchs Haus schlich und sie zusammengekrümmt und leblos auf dem Steinfußboden der Speisekammer fand. Ich redete mir ein, dass die klaffende

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