Blutskinder
schaute ihn lächelnd an.
»Ein langes Leben voller Stress? Hm.« Robert lächelte zurück.
»Es wird nicht immer so schlimm sein.« Sie warf noch einen raschen Blick auf seine Hand. »Jetzt ist gerade die schlimmste Phase. Wenn Sie die erst mal überstanden haben …«
»Gilt das denn nicht für jeden? Haben nicht alle Leute, die zu Ihnen kommen, Probleme?« Im selben Augenblick bereute Robert seine Worte. Er war schließlich nicht hergekommen, um mit ihr ein Streitgespräch anzufangen.
»Wir haben tatsächlich alle unsere Probleme, Mr Knight. Doch wir unterscheiden uns in der Art, wie wir damit umgehen.« Abrupt ließ sie Robert los und legte ihre Hände um die Kristallkugel. Verzerrt und gebrochen spiegelte sich ihr Gesicht im Glas – ein Abbild ihrer Seelenpein.
»Erzählen Sie mir etwas über die Zukunft meiner Familie.«
Damit hatte er ihr verraten, dass er eine Familie besaß, aber das spielte jetzt keine Rolle. Er wollte unbedingt auf Ruby zu sprechen kommen. Vielleicht würde Cheryl ja ihre eigene Zukunft in der seinen lesen. Dann brauchte er ihr die Wahrheit nicht beizubringen und würde nicht vollends zum Verräter an Erin werden.
Während sie sich in die Kristallkugel vertiefte, dachte Robert darüber nach, was wäre, wenn er sich irrte. Doch die Polizei war vor dreizehn Jahren zu demselben Schluss gekommen. Ein und derselbe Kriminalbeamte hatte sowohl im Fall des entführten Babys als auch im Fall von Ruths Verschwinden ermittelt.
Robert sah ebenfalls in die Glaskugel und versuchte sich vorzustellen, wie Ruth, seine Erin, das Kind einer anderen Frau entführte. Doch aus der Kugel starrte ihm nur das Gesicht von Mary Bowman entgegen, der man die Kinder wegnehmen wollte.
»Ich sehe eine Frau. Ihr Leben ist zart wie ein Hauch.« Cheryls Stimme kam von weit her. Sie wandte den Blick nicht von der Kristallkugel. »Ständig hat sie Angst. Ständig läuft sie davon.« Unvermittelt ließ Cheryl die Hände sinken. Mit ausdruckslosem Gesicht und starrem Blick drehte sie sich um, zog eine Mohairstola von der Stuhllehne und legte sie sich um die Schultern. Robert sah, dass sich die Härchen auf ihren Unterarmen aufgerichtet hatten.
»Sprechen Sie weiter«, drängte er. Er glaubte zwar nicht an diesen ganzen Kram, aber womöglich hatte sie ja wirklich etwas gesehen.
Wieder der Blick in die Kristallkugel. »Soll ich aufrichtig zu Ihnen sein?«
»Natürlich.« Er wäre auch gern aufrichtig zu dieser Frau gewesen, aber dann hätte er Erins Leben zerstört.
»Sie haben jemanden verloren, der Ihnen nahe stand. Es ist noch gar nicht so lange her. Sie geben sich selbst die Schuld dafür und drehen sich im Ihren Gedanken und Gefühlen immer im Kreis.« Cheryl zog sich die Stola enger um die Schultern. »So viel Angst«, flüsterte sie mit furchtsamem Blick.
»Und was noch?« Robert war plötzlich so versessen auf Einzelheiten, dass er den Grund seines Kommens fast vergaß. Cheryl hatte eindeutig Jenna gesehen.
»Mehr sehe ich nicht.«
»Können Sie nicht oder wollen Sie nicht?« Roberts Stimme klang viel zu laut. Am liebsten hätte er sie angeschrien und sie geschüttelt und gleich darauf ihr Gesicht in seine Hände genommen und ihr zugeflüstert, dass alles Leid nun ein Ende hatte. Dass er ihr verlorenes Kind wiedergefunden hatte, dass seine Frau Erin es entführt und als ihr eigenes aufgezogen hatte, und dass sie, Cheryl, es zurückbekommen konnte. Und wenn sie wollte, durfte sie es für immer behalten.
Allerdings würde er damit das Leben eines jungen Mädchens zerstören, das gerade erst Zuversicht und Selbstvertrauen entwickelt hatte. Wie sollte er Ruby die einzige Mutter nehmen, die sie jemals gekannt hatte? Wie konnte er die Frau, die er liebte, derart hintergehen? Denn zweifellos würde Erin angeklagt und verurteilt werden, und im ganzen Land würden sich die Leute das Maul über sie zerreißen.
Wie sollte er das fertigbringen?
Robert saß zusammengesunken auf seinem Stuhl und stieß ein so lautes Stöhnen aus, dass sich mehrere Köpfe nach ihm umdrehten. »Tut mir leid«, sagte er, als er Cheryls erstaunte Miene bemerkte. »Ich habe eine harte Woche hinter mir.«
Um ihm über die Verlegenheit hinwegzuhelfen, legte Cheryl einige Tarotkarten aus. Robert betrachtete die bunten Bilder, deren Bedeutung ihm schleierhaft war. Selbst wenn sie ihm vorausgesagt hätte, dass er am nächsten Tag von einem Bus überfahren werden würde, wäre es ihm egal gewesen. Das Einzige, was er wollte, war, dass sie auf
Weitere Kostenlose Bücher