Blutskinder
Wahrsagerin gegangen?« Scheinbar hatte Robert mit seiner Frage einen wunden Punkt berührt, denn Cheryl stand unvermittelt auf. »Mr Knight, ich berechne Ihnen nichts für diese Beratung, da Sie offensichtlich nicht daran interessiert sind, etwas über sich zu erfahren. Und wenn Sie jetzt so freundlich wären …« Sie machte eine Handbewegung zur Tür. »Auf mich warten noch echte Klienten. Guten Abend.«
Robert war ganz froh über ihre Entrüstung. Das gab ihm wenigstens die Gelegenheit loszuwerden, was ihm auf der Seele brannte. Er erhob sich ebenfalls und stützte sich mit den Händen auf das wackelige Tischchen.
» Ich weiß es « , sagte er mit der leisen, beherrschten Stimme, die er sich in langen Berufsjahren mit schwierigen Klienten, aber auch in seinen jüngsten Auseinandersetzungen mit Erin angeeignet hatte. »Ich weiß, was geschehen ist.«
Cheryl legte den Kopf schief. Eine steile Falte erschien zwischen ihren Brauen.
»Ich weiß von Ihrem Baby.«
Cheryl taumelte und klammerte sich an die Stuhllehne. Sie griff so fest zu, dass die Fingerknöchel weiß hervortraten.
»Ich habe Ihr Kind gefunden, Cheryl. Jetzt ist alles wieder gut.«
26
I
ch fand bald heraus, was es mit den billigen Unterkünften auf sich hatte. Dort wurde nicht viel verlangt, aber auch nur wenig geboten. Ein paar Nächte hier, ein paar dort. Denn sobald ich mich länger an einem Ort aufhielt, fing jemand an, unbequeme Fragen zu stellen. Nachdem es mir gelungen war, einige ehemalige Freier aufzuspüren und ein paar Hunderter zu verdienen, spendierte ich Ruby eine Nacht in einem piekfeinen Hotel. Wir aßen Eis direkt aus der Packung und schauten uns dabei rührselige Filme an, bis wir in dem übergroßen Bett einschliefen.
Dann sah ich die Anzeige. Wahrscheinlich wäre ich achtlos daran vorbeigegangen, wenn Ruby nicht stehen geblieben wäre, um sich ihren Turnschuh zuzubinden. Verkäuferin gesucht. Ich ließ Ruby vor dem Blumengeschäft warten, ging hinein und beeindruckte den Inhaber mit meinen umfassenden botanischen Kenntnissen. Am nächsten Tag trat ich die Stelle an, und am Wochenende darauf bezogen wir ein Zimmer in einer Studenten-Wohngemeinschaft. Denen war es egal, wo wir herkamen, weil ich vom Lohnvorschuss die Miete für zwei Wochen im Voraus bezahlt hatte. Irgendwie war es gut, wieder in London zu sein.
Zwei Wochen nachdem das Schuljahr begonnen hatte, meldete ich Ruby an der örtlichen Gesamtschule an. Auch für sie war es ein Neubeginn – ihr erstes Jahr auf einer weiterführenden Schule. Sie war jetzt elf. Es dauerte einen ganzen Monat, bevor ich merkte, dass sie die Schule schwänzte. Einmal fand ich sie weinend im Bett. Ihr Kopfkissen war von Tränen durchnässt, und sie hatte sich einen Zipfel ihrer Bettdecke in den Mund gestopft, damit man ihr verzweifeltes Schluchzen nicht hörte. Als ich ihr das Stoffstück aus dem Mund zog, begann sie zu schreien. Ich ging mit ihr ins Badezimmer, wo ich die blauen Flecken auf ihrem Rücken entdeckte.
Ich machte sofort einen Termin beim Direktor ihrer Schule, doch der hatte nur wenig Zeit für mich.
»Wir haben noch mehr nicht sesshafte Kinder an unserer Schule. Warum spielt sie nicht mit denen?« Er dachte, wir wären Zigeuner.
Eine Zeit lang erlaubte ich Ruby, mit in den Blumenladen zu kommen, wo ich arbeitete. Er lag an einer belebten Einkaufsstraße und jeden Vormittag lief sie zum Bäcker und holte Doughnuts und heiße Schokolade. Bald aber wurde ihr das langweilig, und sie wollte lieber wieder zur Schule gehen. Ich musste sie erneut anmelden, weil die Schulsekretärin gedacht hatte, wir wären fortgezogen.
Nach ein paar Monaten hatte ich so viel verdient, dass ich uns ein möbliertes Zimmer mieten konnte. Endlich hatten wir unser eigenes Zuhause, und das Anstehen vor dem Badezimmer und die gekennzeichneten Lebensmittel im Kühlschrank gehörten der Vergangenheit an. Als die Schule eine Kopie von Rubys Geburtsurkunde verlangte, versprach ich, sie nachzureichen, tat es aber nie. Schließlich fragten sie nicht mehr danach. Wir waren die Mühe einfach nicht wert.
Neben dem Blumenladen befand sich eine Musikalienhandlung. Um Viertel vor vier stieg Ruby immer aus dem Schulbus, der direkt vor dem Laden hielt. Sie bemühte sich, nicht gleich zu lächeln, wenn sie sah, wie ich durch die Schaufensterauslagen hindurch nach ihr Ausschau hielt. Und statt gleich zu mir zu kommen, ging sie in das Geschäft nebenan und strich sachte mit den Fingern über die Tasten der Flügel
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