Blutskinder
fällt mir ein, d ass er noch etwas zu erledigen hatte. Ich bin also ganz allein. Ich reiße den Umschlag auf und werfe einen Blick auf die Karte. Eisige Kälte greift mir ans Herz, als ich in schwarzer Schrift seinen Namen lese. Er hat mich also doch gefunden, nach all der Zeit, und will mich wiederhaben, damit ich den Mund halte.
Ich schließe sofort den Laden, renne zu Rubys Schule und trete ungeduldig von einem Bein aufs andere, bis der Unterricht endlich zu Ende ist. Sie ist ganz verdutzt, als sie mich sieht. Normalerweise kommt sie allein zum Laden, dekoriert ein bisschen die Auslagen um oder bittet mich um Geld für ein Eis. Damit setzt sie sich an die Strandpromenade und scheucht die Möwen weg, bis es Zeit ist, nach Hause zu gehen.
Aber heute nehme ich sie bei der Hand und ziehe sie förmlich hinter mir her. Wir fahren mit dem Bus nach Hause und verriegeln die Tür hinter uns. Für alle Fälle und ohne dass Ruby es merkt, packe ich eine Tasche. Ich stopfe alle Dinge hinein, die wir brauchen könnten, und auch die, die mir ans Herz gewachsen sind. Zweimal schon habe ich bei meiner Flucht mein ganzes Leben hinter mir gelassen. Das Telefon klingelt. Ich gehe nicht ran, sondern höre anschließend die Nachricht auf dem Anrufbeantworter ab. Er ist es. Niemals könnte ich diese Stimme vergessen, diese Wieselaugen, die mich unentwegt verfolgen.
Er will mich wiederhaben, auch wenn ich mittlerweile ein völlig anderer Mensch bin.
Ich werde vom Rauchgestank wach. Ein Feuer greift in Windeseile um sich, heißt es immer, aber in diesem Fall verbreiten sich Angst und Panik genauso schnell im ganzen Haus wie die dichten schwarzen Qualmwolken, die in unser Schlafzimmer dringen.
»Wach auf, Ruby!«, schreie ich. Wir schlafen im selben Raum, doch sie rührt sich nicht und ich habe schon Angst, dass sie im Rauch erstickt ist. Doch auf einmal regt sie sich, schnuppert kurz und blinzelt mich mit tränenden Augen an.
»Was ist los, Mami?«
»Steh schnell auf! Es brennt!« Ich höre Baxter schreien und gegen eine Tür hämmern. Krachend zerbirst Glas. Da reiße ich Ruby aus dem Bett und mache mich am Riegel des Schiebefensters zu schaffen, doch meine Finger wollen mir einfach nicht gehorchen. »Mach die Tür zu!«, rufe ich. So gewinnen wir ein paar kostbare Sekunden.
Endlich gibt der farbverklebte Riegel nach. Ich schiebe die schwere Fensterscheibe hoch und dränge Ruby hinaus auf den Fenstersims. Als sie hinausklettert, klappert und quietscht die eiserne Feuerleiter wie ein altes sinkendes Schiff. Ich zerre die gepackte Tasche unter dem Bett hervor und hänge sie mir über die Schulter. Ohne einen Blick zurückzuwerfen, steigen wir die Feuerleiter hinunter und rennen so schnell wir können über die Straße davon. Ich weiß, dass er in der Nähe ist.
Dann stehen wir keuchend und japsend am Strand. Ein brenzliger Geruch liegt in der Luft, über den Dächern schimmert es rot, und das Heulen der Sirenen gellt durch die ganze Stadt. Zitternd setzen wir uns hin und schmiegen uns eng aneinander. Ruby, im Schlafanzug, hat den Kopf auf meine Schulter gelegt und auch ich habe nur eine Sweathose und ein T-Shirt an. Mal wieder Zeit, den Zug zu nehmen, denke ich.
Die Flut kommt. Als Gischt auf unsere Füße spritzt, ziehen wir uns weiter zurück und kauern uns an der Flutmauer zusammen. Ich denke darüber nach, was es für Folgen hat, wenn ich wieder einmal weglaufe, und was passiert, wenn wir bleiben.
Wir könnten jetzt einfach aufstehen und zu den rauchenden Trümmern von Baxters und Patricks Wohnung zurückkehren. Ich mag gar nicht daran denken, dass ich ihnen das zugefügt habe. Aber sie sind bestimmt unversehrt, und das Haus lässt sich wieder aufbauen. Und sie haben einander. Auf jeden Fall sind sie ohne mich besser dran. Genau wie meine Eltern, die gut auf diese Tochter verzichten konnten – diesen Teenager, der ihnen mit seiner Schwangerschaft Schande gemacht hat. Auch Baxter und Patrick können gut auf meine finstere Vergangenheit verzichten, die immer ihr Leben überschatten würde. Wenn ich es mir recht überlege, wäre sogar Ruby ohne mich besser dran. Aber ich bin jetzt nun einmal ihre Mutter. Sie schläft an meine Schulter gelehnt ein.
Als es Morgen wird, nehmen wir einen Bus zum Bahnhof und fahren mit dem Zug in die einzige Stadt, in der Becco uns bestimmt nicht suchen wird – nach London.
Vom Bahnhof Victoria Station aus rufe ich Baxter an, um ihm zu sagen, dass es uns gutgeht. Mit tränenerstickter Stimme
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