Blutskinder
wahrsten Sinne des Wortes eine rettende Hand entgegen. Als ich eines Tages gerade drei cellophanverpackte Sträuße aus irgendwelchen exotischen Blumen aus einem Eimer mopsen wollte, schoss eine dicke Hand vor und packte mich beim Handgelenk.
»Ich hab gehört, dass du mir Konkurrenz machst«, sagte der Mann und beugte sich zu mir herunter. Als Ruby dann auch noch anfing, ängstlich zu jammern und an meiner anderen Hand zu ziehen, war mir, als würde ich mittendurch gerissen. »Da könnte ich dir einen guten Großhändler empfehlen«, setzte der Blumenhändler zu meiner Überraschung ganz freundlich hinzu und führte mich und Ruby in sein wohlriechendes Geschäft. Als ich mich vor ihm zu Boden warf und ihn schluchzend anflehte, nicht die Polizei zu holen, zog er einen Stuhl für mich heran und gab uns beiden Orangensaft und belgische Schokolade. Wir mussten uns zusammenreißen, um sie nicht allzu gierig zu verschlingen.
»Es tut mir leid«, sagte ich. »Ich werde Sie nie wieder bestehlen. Es ist nur einfach so, dass sich Ihre Blumen am besten verkaufen, und außerdem sind wir am Verhungern.« Dem Mann gefiel meine Aufrichtigkeit.
»Ich beobachte dich schon seit einer Woche, seit mir aufgefallen ist, dass meine Anthurien Beine bekommen haben. Ich habe dir an der Strandpromenade sogar eines von deinen Gestecken abgekauft, aber du wirst dich bestimmt nicht an mich erinnern.« Da hatte er recht.
Er sagte, sein Name sei Baxter King, und er suche eine Verkäuferin. Er bot mir den Job an, weil ich ein Auge für Farben hätte, wie er sagte. Dann rief er seinen Partner Patrick, um mich ihm vorzuführen. Arm in Arm stand das Pärchen da und schaute zu, wie ich meinen Saft trank und Ruby ihre Schokolade lutschte. Innerhalb einer Woche hatte ich die wichtigsten Kniffe gelernt, und die beiden boten mir an, mit in ihre komfortable Wohnung zu ziehen und ihnen den Haushalt zu führen.
»Baxter«, sage ich atemlos, als er hereinkommt und den Geruch nach Salz und Wind mitbringt. »Es hat schon wieder jemand angerufen! Ich weiß, dass er es ist.« Ohne den Blick von mir zu wenden, lässt Baxter seine Jacke auf einen Stuhl fallen und legt Patrick zur Begrüßung kurz die Hand auf die Schulter. Dann kommt er zu mir und nimmt mich in den Arm.
»Das ist doch alles schon so lange her«, sagt er. »Manche Dinge im Leben muss man einfach vergessen. Er kann dich unmöglich aufgespürt haben. Wahrscheinlich hat bloß jemand die falsche Nummer gewählt. Aber wenn es dich beunruhigt, lasse ich die Nummer ändern.«
Ich nicke wortlos, als würde ich ihm glauben. Nicht einmal Baxter kennt meine ganze Geschichte.
Ich habe die Leiche gesehen. Ich habe Geld mitgehen lassen und einen Pass und ein kleines Mädchen. Ich weiß einfach zu viel, auch wenn ich gut den Mund halten kann. Obwohl ich ein neues Leben angefangen habe, weit weg von London und von meiner Vergangenheit, werde ich das Gefühl nicht los, dass Becco nach mir sucht und mich zurückholen will …
Fröstelnd schiebe ich den Gedanken beiseite und erzähle Baxter, wie der Tag im Geschäft war und wie gut sich die neue Ware verkauft und wie tüchtig Ruby in der Schule ist.
»Die Rolle als Annie in dem Musical hat sie übrigens nicht bekommen, auch nicht als eines der anderen Waisenkinder. Aber sie freut sich trotzdem riesig.«
»Wie kommt’s?«, fragt Baxter mit hochgezogenen Augenbrauen. Er wirkt erleichtert, vermutlich glaubt er, er hätte meine Befürchtungen zerstreut.
»Sie darf im Orchester mitspielen. Als Pianistin.« Vor lauter Stolz wird er ganz rot, als wäre er Rubys Vater.
Vom ersten Tag an, als wir bei ihm einzogen, setzte sich Baxter mit Ruby ans Klavier. Sie lernte rasch, obwohl sie noch nicht einmal zur Schule ging. Das Klavierspielen, angefangen mit den einfachsten Kinderliedern, wurde ihre große Leidenschaft. Sie konnte dabei all jene Ängste verarbeiten, die sich in den ersten Jahren ihres Lebens in ihr angestaut hatten. Dafür, dass er ihr das ermöglicht hat, werde ich Baxter ewig lieben.
»Das freut mich sehr für sie«, sagt er, während er aus dem Erkerfenster im ersten Stock hinaus auf die Uferpromenade schaut. »Sieht aus, als würde sich ein Sturm zusammenbrauen«, fügt er hinzu – und damit hat er wohl recht.
Jemand hat mir Blumen geschickt. Blumen an einen Blumenladen. Der Bote wundert sich auch und überprüft noch einmal den Namen. »Doch«, sagt er, »die sind wirklich für Sie.« Ich gehe in den Lagerraum und rufe nach Baxter, aber dann
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