Blutskinder
mit dem Baby.« Als er weggeht, will ich ihm zuerst nachrufen, dass er eine seiner Tragetaschen unter dem Sitz vergessen hat, aber dann lasse ich es doch bleiben. Ich warte, bis er in den Zug gestiegen ist und Ruby schläft, dann ziehe ich die Tüte mit dem Fuß zu mir heran und schaue hinein: Sie ist voller Lebensmittel. Ich frage mich, ob er das wohl mit Absicht getan hat.
Ruby und die Einkaufstüte zu tragen ist ganz schön schwer und ich merke, dass ich wieder zu bluten anfange. Ich weiß nicht, ob das schlimm ist, aber ins Krankenhaus gehe ich auf gar keinen Fall. Die schicken mich nach Hause oder rufen vielleicht sogar die Polizei.
Mit dem Bus fahre ich ins Stadtzentrum von Milton Keynes. Einmal vor Weihnachten war ich mit meiner Mutter und mit Tante Anna zum Einkaufen hier, aber den beiden gefiel es nicht. Sie fanden alles viel zu teuer, doch ich fand es einfach zauberhaft.
Heute ist es gar nicht zauberhaft. Überall auf den Straßen Schneematsch und in jedem Schaufenster ein »Schlussverkauf«-Schild. Ich gehe in die Babyabteilung eines Kaufhauses, wo es schön warm ist. Dort gibt es alles für Babys, was man sich nur vorstellen kann – Lampenschirme und Bettdecken und Handtücher und kuschelige Schlafanzüge, alles mit demselben Muster. An der Decke hängt noch die Weihnachtsdekoration und ein geschmückter Baum steht schon ganz schief, so als hätte er es satt und würde gern weggeräumt werden.
»Sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie Hilfe brauchen.« Die Stimme der Verkäuferin klingt freundlich, aber ich wette, sie glaubt, dass ich was klauen will. Ich hebe Ruby etwas höher und lege sie an meine Schulter, damit jeder sehen kann, dass ich ein Baby habe und mich hier aufhalten darf.
»Ich schaue mich nur um.«
»Da drüben ist ein Wickelraum, falls Sie dem Baby die Windeln wechseln wollen.« Sie rümpft lächelnd die Nase. Sie hat recht, Ruby stinkt. Und ich habe keine Windeln.
»Ach, Ruby, du brauchst wirklich eine neue Windel, aber ich Dummerchen habe sie zu Hause vergessen.« So rede ich sonst eigentlich nie.
»Sie finden alles, was Sie brauchen, im Wickelraum. Ein Service des Hauses.«
Der Raum ist leer und riecht nach Talkumpuder und abgestandener Milch. Ich lege Ruby auf den Wickeltisch und schüttele meine verkrampften Arme aus. Als ich die Decke auseinanderfalte, sehe ich, dass ihr Strampelanzug ganz feucht ist. Kein Wunder, dass sie so unruhig war. Ich schäle sie aus ihren Kleidungsstücken, bis sie nur noch einen Body mit Druckknöpfen zwischen den Beinen anhat. Dann betrachte ich ihre Sachen genauer. Trotz der stinkenden Windel riechen sie noch ganz schwach nach Waschpulver.
»Mummy macht dich schnell sauber, mein Schätzchen.« Ich kitzele ihr den Bauch. Mir kommt es vor, als fixiere sie mich mit ihrem Blick. Wieder ist mir, als würden sich unsere Seelen berühren. Unbeholfen wechsele ich ihr die Windel, muss ihr aber wieder die schmutzigen Kleider darüberziehen. Bei meiner überstürzten Flucht hatte ich keine Zeit, was zum Wechseln für sie mitzunehmen. Gerade noch lag ich auf meinem Bett, und im nächsten Augenblick sprang ich schon in den Busch unter meinem Fenster. Da blieb keine Zeit, Winterkleidung einzupacken.
Wie ich so dasitze und Ruby stille, fällt mir siedend heiß ein, dass wir keine Unterkunft für die Nacht haben. Meine Freundin Rachel ist auch mal weggelaufen, aber nur für drei Tage. Sie ging in ein Haus für misshandelte Frauen. Obwohl sie keine misshandelte Frau und damals erst dreizehn war, wurde sie aufgenommen. Aber weil sie den Verdacht hatten, dass sie eine Ausreißerin war, benachrichtigten sie die Polizei und die brachte sie zu ihren Eltern zurück.
Rachel ist weggelaufen, weil sie keinen Hund haben durfte. Ich bin weggelaufen, weil ich mein Baby nicht behalten durfte.
Eine andere Mutter kommt herein und sagt nur kurz »Hallo«, nachdem sie einen Blick auf mich und Ruby geworfen hat. Ich glaube, sie wollte sich ein bisschen unterhaken, hat es sich dann aber anders überlegt. Sie zieht ihr Baby aus. Ihr Kinderwagen ist wirklich schön, riesengroß und bequem und mit passender Windeltasche. Sie redet mit ihrem Baby, als könnte es jedes Wort verstehen. So einen Kinderwagen hätte ich gern für Ruby, dann würden mir wenigstens nicht bald die Arme abfallen.
Nachdem ich mit Stillen fertig bin, wickele ich Ruby wieder in ihre Decke, nehme sie fest in den linken Arm, und als die andere Mutter gerade nicht herschaut, stopfe ich ein halbes Dutzend Windeln und
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