Blutskinder
Ein paar Sekunden lang dachte ich nicht an das, was in der Nacht zuvor geschehen war.
Doch dann spürte ich eine leichte Bewegung dicht neben mir und da fiel mir wieder ein, dass mein Baby nicht mehr in meinem Bauch war. Die Kleine hatte sich weiter nach unten unter die Decke verkrochen. Vielleicht wollte sie ja wieder zurück in meinen Leib oder sie suchte nach meiner Brustwarze. Instinktiv zog ich sie nach oben an meine Brust, wo sie gleich gierig zu saugen anfing. Nach ein paar Minuten hatte sie genug getrunken und schlief friedlich ein.
Jetzt sind wir am Bahnhof. Ich bin erst zweimal mit dem Zug gefahren. Einmal, als ich zehn war, fuhren wir nach London zu Vaters Cousin, der erst kurz zuvor aus einem Dorf bei Warschau gekommen war. Das zweite Mal fuhren wir in den Ferien nach Broadstairs. Wir sind aber schon zwei Tage später wieder nach Hause gekommen, weil Mutter Vater dabei ertappt hat, wie er auf dem Treppenabsatz in unserer Pension einem Zimmermädchen an die Brust fasste.
Ich gehe in das Bahnhofscafé und setze mich an einen Tisch. Dabei lege ich mir Ruby so auf den Schoß, dass sie unter meiner Jacke kaum auffällt. Ich taste in meiner Jackentasche nach dem Geld. Zwei Zwanzigpfundnoten und ein bisschen Kleingeld. Das war alles, was Mutter in ihrer Börse hatte – der Rest vom Haushaltsgeld.
Ich gehe mit Ruby unter der Jacke zum Tresen und kaufe mir eine heiße Schokolade und einen Schokoriegel. Ruby ist so brav! Sie schläft noch immer tief und fest und macht keinen Mucks, sodass die Kellnerin sie gar nicht bemerkt. Sonst würde sie sich bestimmt über die Theke beugen und ihr was in dieser albernen Babysprache vorsäuseln. Aber so knallt sie mir nur das Wechselgeld auf den Tresen und wendet sich dann der Kundin hinter mir zu. Mich beachtet sie nicht weiter.
An meinem Tisch trinke ich mit kleinen Schlucken die Schokolade und schaue mir den Fahrplan an, den jemand in einer Lache aus verschüttetem Tee liegengelassen hat. Alle halbe Stunde geht ein Zug nach London, der nächste in zwölf Minu ten. Den nehme ich.
Mutter klopfte erst kurz nach Mittag an meine Tür und stellte wie gew öhnlich das Essentablett auf den Treppenabsatz. Ich hatte kaum die Kraft, mich aus meinem durchnässten Lager auf dem Fußboden herauszuarbeiten, aber vor lauter Hunger schaffte ich es doch, auf allen vieren zur Tür zu kriechen. Niemand wusste, dass ich mein Baby bekommen hatte. Heißhungrig verschlang ich das Essen und stellte das Tablett wieder vor die Tür. Dann schlief ich weiter, ich weiß nicht mehr, wie lange. Gott sei Dank war Ruby ganz still, nuckelte oder schlief auch. Wahrscheinlich hatte sie noch gar nicht richtig begriffen, dass sie auf der Welt war.
Ich stehe ganz nahe an der Bahnsteigkante. Einen Meter von Ruby und mir entfernt rauscht ein Zug mit viel Wind und Getöse durch den Bahnhof. Ich bin ganz aufgeregt, weil wir jetzt bald unterwegs sein werden. Eine undeutliche Stimme aus dem Lautsprecher sagt den Zug nach London an. Ich weiß noch nicht, was wir dort anfangen sollen, aber Hauptsache, wir sind erst einmal in Sicherheit.
In London weiß keiner, dass ich von zu Hause weggerannt bin, weil meine Eltern wollen, dass ich mein Baby zur Adoption freigebe. In London interessiert sich keiner für uns, und deswegen sind wir dort sicher.
Ich halte mein kostbares kleines Baby im Arm und bin unablässig auf der Hut. Ich weiß, dass meine Flucht jeden Augenblick zu Ende sein kann. Dann wird sich Vaters schwere Hand auf meine Schulter legen und Mutter wird schluchzend und jammernd neben ihm stehen und mich mit Vorwürfen überschütten. Dann verhaftet mich die Polizei, nimmt mir mein Baby weg und gibt es einer anderen Frau. Und meine Eltern wären froh darüber. Dann komme ich ins Gefängnis und der Einzige, der mich besuchen darf, ist Onkel Gustaw …
Als der Zug langsam zum Stehen kommt, steige ich ein, mein Kind fest an mich gepresst. Rubys Augen blicken über den Rand der Decke. Was sie mit ihrem verschwommenen Blick von der Welt wahrnimmt, weiß ich nicht. Ich habe gelesen, dass Babys nichts scharf sehen können, was weiter entfernt ist als das Gesicht ihrer Mutter.
Auf einmal wird Ruby munter. Sie rumort in ihrer Umhüllung und bewegt den Kopf, als würde sie alles verstehen. Lächelnd küsse ich sie auf die Stirn, stolz darauf, dass sie so ein kluges Baby ist. Dann schiebe ich mich seitwärts durch den schmalen Gang.
Der Zug ist voll. Trotzdem finde ich einen leeren Sitz neben einem jungen Mann, der
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