Blutskinder
bevor die Müllabfuhr kommt.
»Jetzt sei doch vernünftig, Ruthie. Was soll denn aus deiner Schule werden? Und aus dem Rest deines Lebens?« Mit verschränkten Armen blickte Vater auf mich herab. Er ähnelt seinem Bruder so sehr.
Solange ich eingesperrt war, tat ich so, als wäre ich einverstanden. Dabei habe ich die ganze Zeit nach einem Ausweg gesucht. Ich habe schon viel zu lange gemacht, was sie wollten. Jetzt bin ich eine erwachsene Frau mit einem Kind und brauche einen Job und eine Unterkunft. Ich fange ein neues Leben an. Wenn sie gedacht haben, ich würde wieder zur Schule gehen … Gerade als ich verächtlich schnaube, sehe ich, wie der Schaffner den Waggon vor mir betritt.
Mit quietschenden Bremsen verliert der Zug an Fahrt. Ich schiebe ein Fenster hinunter und stecke den Kopf hinaus. Dabei halte ich Ruby gut fest. Wir sind ungefähr fünfhundert Meter vor einem Bahnhof. Noch einmal werfe ich einen Blick in den angrenzenden Waggon. Der Schaffner hat ihn schon halb durchquert und kontrolliert keine Fahrkarten mehr, weil er denkt, er hätte alle gesehen. Statt an zerzaustem Buschwerk fahren wir nun an einer Bahnsteigkante entlang und die ersten Werbetafeln tauchen auf. Wir sind im Bahnhof. Meine Hand liegt auf dem Türgriff, und in dem Moment, als der Zug zum Stehen kommt, in dem Moment, als der Schaffner die Zwischentür aufschiebt, drücke ich den Hebel hinunter. Die Tür geht auf, und ich springe hinaus. Dabei schlägt Rubys Köpfchen leicht gegen meine Brust. Sie erwacht mit einem schrillen Schrei, und wir rennen abermals, weg von dem Zug zu einem trübseligen, aber warmen Warteraum.
Dort sitzen wir nun und warten. Ich zittere, das Baby wimmert. Endlich, nachdem ich es fast eine halbe Stunde lang versucht habe, fängt Ruby an zu saugen. Während sie trinkt, fällt mir mein Schokoriegel wieder ein. Ich ziehe ihn aus der Tasche und wickele ihn mit einer Hand aus. Wie eine kleine Kugel liegt Ruby mit hochgezogenen Knien in meiner linken Armbeuge. Ich sammle ein paar Schokoladenkrümel auf, die ihr auf den Kopf gefallen sind, und muss daran denken, dass auch sie eines Tages Schokolade essen kann. Ich habe allerdings keine Ahnung, wann das sein wird. Ich weiß nicht, wann sie normales Essen bekommen muss, wann sie laufen und sprechen lernen sollte oder zur Schule gehen, ein Instrument lernen, ihr Examen machen oder schwanger werden.
Ruby saugt jetzt weniger heftig. Das ist schön, weil mir der Nippel höllisch wehtut. Bis jetzt war ich allein im Warteraum, aber nun kommt ein Mann herein und setzt sich ausgerechnet mir gegenüber. Ich will nicht, dass ein Fremder meine Brust sieht.
»Wie alt?« Der Mann, der so um die vierzig ist, stellt einen Haufen Einkaufstüten ab und beugt sich vor, damit er besser sehen kann. Er ist außer Atem und riecht nach der kalten, erdigen Winterluft. Ich bin nicht sicher, ob er mein oder Rubys Alter meint, also antworte ich nicht.
»Meine Tochter ist jetzt vierzehn.« Mit einem Seufzer lehnt er sich zurück.
Ich lasse meinen Arm ein paar Zentimeter sinken in der Hoffnung, dass Ruby dann meine Brustwarze freigibt und wir gehen können, aber sie nuckelt immer weiter. Ich könnte schreien, so weh tut es. Ich ziehe die Decke über Rubys Kopf und meine Brust.
»Man muss die Zeit genießen, wenn sie noch so klein sind«, fängt der Mann wieder an. »Das ist so schnell vorbei.« Er reißt eine Coladose auf. »Ist doch wirklich praktisch, dass Sie die Milch immer dabeihaben.« Er deutet mit dem Kinn auf meine Brust, nimmt einen Zug aus der Dose und lacht. Anscheinend findet er das witzig. Ich bekomme langsam Angst. Weit und breit ist niemand zu sehen, und obwohl es erst halb drei ist, wird es schon dunkel. Es sieht aus, als würde es Schnee geben. Ich friere und mir läuft die Nase.
»Wohin soll’s denn gehen?« Er starrt mich an.
»Eigentlich will ich nur meinen Mann abholen. Er kommt mit dem nächsten Zug. Dann gehen wir nach Hause.« Für einen wunderschönen Augenblick glaube ich selbst, was ich sage. Ich stelle mir einen gut aussehenden jungen Mann mit flott gestyltem Haar und einem teuren Anzug vor, der von seinem gut bezahlten Job in der City nach Hause kommt. Er steigt aus dem Zug, läuft über den Bahnsteig und umarmt mich und seine Tochter. Dann sagt er, lass uns noch irgendwo etwas essen, bevor wir nach Hause gehen. In unser warmes, gemütliches Heim …
»Dann kommt er sicher mit meinem Zug. Der müsste gleich da sein.« Er steht auf. »Na, dann noch viel Glück
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