Blutskinder
einen Kopfhörer aufhat und eine Zeitschrift liest. Er schaut nicht hoch, als ich mich neben ihn setze, sondern legt bloß seinen Ellbogen auf die Armlehne, sodass ich meinen Arm nicht abstützen kann. Ich packe Ruby aus, die immer unruhiger wird. Ich sehe, dass sie eins ihrer kleinen gestrickten Schühchen verloren hat, und reibe ihren Fuß, der ganz kalt geworden ist. Mir tun die Arme vom Schleppen weh und überhaupt fühle ich mich nicht recht wohl. So als ob ich eine Grippe bekäme.
Ich rutsche ein wenig herum, bis ich bequem sitze, und der junge Mann wirft erst mir, dann Ruby einen Seitenblick zu. Ich presse sie an meinen Körper, aber sie versucht, die Arme aus der Decke zu befreien. Dabei stößt sie einen kleinen ungeduldigen Schrei aus. Erstaunlicherweise lächelt der junge Mann, dann schaut er wieder weg. Ich kann gedämpft die Bässe seiner Musik hören. Irgendwo klingelt ein Handy, und weiter hinten im Waggon greint ein anderes Baby.
Wenn ich nicht auf der Flucht wäre und mich verstecken müsste, würde ich mich neben dieses andere Baby setzen, damit Ruby es anschauen kann. Ich könnte mich mit seiner Mutter darüber unterhalten, welche Sorte Windeln man kaufen soll und ob es besser ist, zu stillen oder die Flasche zu geben. Ich bin jetzt auch eine Mutter, aber mir ist, als hätte ich mit fünfzehn irgendwie nicht das Recht dazu. Bestimmt würde die andere Mutter mich von oben herab ansehen und ihr Baby wegziehen. Als der Zug anfährt, merke ich, dass ich mit dem Rücken zur Fahrtrichtung sitze.
Nach zwanzig Minuten fängt Ruby an zu schreien. Der junge Mann stellt seine Musik lauter und die Dame auf der anderen Seite des Gangs starrt zu mir herüber. Ich schwitze in meinem Parka. Die Schiebetür am Ende des Waggons geht auf und der Schaffner lehnt sich gegen die erste Sitzreihe, während die Fahrgäste in ihren Taschen nach der Fahrkarte kramen. Noch fünf Reihen, dann ist er bei mir. Ich habe keine Fahrkarte. Ich stehe auf, mein Baby auf dem Arm, und gehe schwankend auf den Schaffner zu. Dabei halte ich mich mit einer Hand an den Sitzlehnen fest.
»Entschuldigen Sie.« Seitwärts drücke ich mich an ihm vorbei, als er gerade jemanden nach seiner Fahrkarte fragt. Ich gehe durch die Schiebetür zur Toilette. Dort stinkt es, und der Boden ist ganz nass. Mit dem Fuß gebe ich dem Toilettendeckel einen Schubs, dass er herunterfällt, und lasse mich darauf nieder. Das Klo hat ein ganz kleines Fenster. Ich könnte hinausklettern. Das habe ich auch zu Hause gemacht. Ich habe mich aufs Fensterbrett gesetzt und mich in den Busch darunter fallen lassen. Wahrscheinlich sehe ich meine Familie nie wieder.
»Was ist?«, sage ich zu Ruby. Sie windet sich und schreit. Sie hat die Arme aus der Decke gezogen und strampelt mit den Beinen. Ich halte sie hoch vor mein Gesicht. Für einen langen, unglaublichen Moment sehen wir uns in die Augen, dann wird ihr Gesicht ganz rot und schrumpelig und sie brüllt weiter, als hatte sie schreckliche Schmerzen. Ich dachte, ich wäre eine gute Mutter.
»Hast du Hunger?« Ich fummele am Reißverschluss meiner Jacke herum, schiebe mehrere Pullover und T-Shirts hoch und hole schließlich eine meiner schmerzhaft gespannten Brüste hervor. Ruby hört auf zu schreien und brummelt nur noch. Dabei schnüffelt sie ein bisschen, als könnte sie die Milch riechen, die mir über die Kleider gelaufen ist. Kurz danach hat sie meine Brustwarze gefunden, aber sie kaut nur ein bisschen darauf herum, so als würde sie gern trinken, wüsste aber nicht, wie. Irgendetwas passt ihr nicht. Ihre kleinen Fäuste boxen in die Luft. Mit dem Zipfel der Decke wische ich ihr ein paar Tropfen Milch vom Gesicht. Es kommt mir so vor, als würde ihr meine Milch nicht schmecken.
»Dann eben nicht«, sage ich und ziehe meine Sachen wieder herunter. Ungefähr zwanzig Minuten sitzen wir in der Toilette und warten, dass der Schaffner weitergeht. Das regelmäßige Ruckeln des Zuges wirkt einschläfernd auf Ruby. Vorsichtig, um sie nicht zu wecken, verlasse ich die Toilette und stelle mich in den kleinen Raum zwischen den beiden Waggons. Am besten bleibe ich hier, bis wir in London sind.
Ich bin weggelaufen, weil Mutter und Vater mich reinlegen wollten. Die ganzen Monate über, als ich in meinem Zimmer eingesperrt war, haben sie Pläne geschmiedet, um mir mein Baby wegzunehmen.
»Du musst das Kind abgeben, Ruth«, sagte meine Mutter in strengem Ton. Als wäre es Abfall, den man noch schnell hinunterbringen muss,
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