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Blutskinder

Blutskinder

Titel: Blutskinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sam Hayes
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sein; ich kann das Rauschen des Verkehrs hören. Ein paar Autofahrer bremsen ab und starren mich an, halten aber nicht. Dann fährt ein Lieferwagen vorbei. Seine Bremslichter gehen immer an und aus, als wüsste der Fahrer nicht, ob er anhalten soll. Schließlich tut er es aber doch und ich renne mit Ruby im Arm die etwa hundert Meter zum Wagen hin. Beim Lauten schlägt mir die Sporttasche gegen den Rücken und die eisige Luft brennt mir mit jedem Atemzug in der Kehle.
    »Wohin soll’s denn gehen, Kleine?« Er ist blond und schmutzig, wahrscheinlich ein Bauarbeiter.
    »London«, keuche ich und stütze mich auf die Beifahrertür.
    »Ich kann dich bis zur Autobahnauffahrt mitnehmen, aber weiter nicht. Dann bist du schon mal ein paar Kilometer näher dran.« Der Arbeiter grinst und zeigt dabei ein paar schauerliche Zähne, die genauso gelb sind wie seine Haare. Aber weil er sonst einen netten Eindruck macht, steigen wir ein. In dem Lieferwagen ist es warm; es riecht nach Öl und Kaffee.
    »Was macht ein junges Mädchen wie du schon so früh am Montagmorgen auf der Landstraße?« Beim Fahren schaut er mich ein paar Mal von der Seite an und grinst wieder. Wahrscheinlich interessiert es ihn gar nicht besonders und er fragt einfach nur so.
    Ich starre geradeaus und überlege krampfhaft, was ich ihm erzählen soll. Ruby greint und zappelt auf meinem Schoß.
    »Süßes Baby«, sagt er. »Wie alt?«
    »Noch ziemlich jung«, antworte ich, froh darüber, dass er das Thema gewechselt hat. Der Fahrer summt die Melodie aus dem Radio mit und trommelt im Takt mit den Fingern aufs Lenkrad, aber ich kann sehen, dass er nachdenkt.
    »Du willst also mit einem ziemlich jungen Baby per Anhalter fahren.« Das Lied ist zu Ende.
    »Ja«, sage ich und knabbere an meinen Nägeln. Weil ich schon die Autobahnauffahrt sehen kann, hebe ich Ruby hoch, die daraufhin zu schreien anfängt, und nehme meine Tasche in die Hand. Ich will jetzt nur noch raus. Der Bauarbeiter lässt mich ohne weitere Fragen an einem Parkplatz aussteigen, hupt einmal kurz und fährt weg.
    Eine ganze Stunde stehe ich mit Ruby an der Auffahrt, bis mir die Wangen von dem scharfen Wind brennen und meine Zehen fast erfroren sind. Endlich hält wieder einer. Diesmal ist es ein Sattelschlepper mit mindestens hundert Rädern, die qualmen und quietschen, als der riesige Laster neben mir zum Stehen kommt.
    »London?«, rufe ich zum Führerhaus hoch und der Fahrer gibt mir zu verstehen, dass ich einsteigen soll. Ich brauche fast eine Leiter, um hinaufzukommen, aber der Mann zieht uns hoch und schnallt mich an. Hinter den Sitzen ist ein Bett. Ich frage ihn, ob er bis nach London fährt. Meine Lippen sind so steif vor Kälte, dass ich kaum ein Wort herausbekomme. Der Lastwagenfahrer hebt beide Hände hoch, als wollte er den Verkehr anhalten.
    »Ich nix Englisch.« Dann brüllt er vor Lachen und fährt los.
    Zweieinhalb Stunden später sind wir in Nordlondon und ich verabschiede mich auf einem Fabrikgelände von dem Fahrer. Ein Lagerarbeiter erklärt mir den Weg zur nächsten U-Bahn-Haltestelle. Ich wollte schon immer mal mit der U-Bahn fahren und bin wahnsinnig stolz, dass ich es allein bis hierher geschafft habe. Der Zug rattert mit uns mitten ins Herz der City – in Sicherheit.
    Ohne besonderen Grund steigen wir an der Haltestelle Tottenham Court Road aus und gehen über den Bahnsteig zum Ausgang. Ich breche fast unter Rubys Gewicht zusammen und habe schreckliche Bauchkrämpfe. Unter meinen Schichten von Kleidung schwitze und glühe ich. Ich bin außer Atem und ein bisschen schwindlig und mein Herz hämmert, aber ich schleppe mich weiter, froh über die Rolltreppe, die uns bis nach oben an die Erdoberfläche bringt. Ich bleibe auf der Treppe stehen und ruhe mich ein bisschen aus, während alle anderen Leute an mir vorbei die Stufen hinaufhasten.
    In der kalten Luft draußen fühle ich mich ein wenig besser und kann weitergehen, auch wenn ich nicht weiß, wohin und mein Baby so schwer ist, dass ich es kaum noch tragen kann. Ich muss weg von der Menschenmenge und dem Dröhnen in meinem Schädel, also biege ich in eine Seitenstraße ein. Aber das Geräusch wird immer lauter; es ist, als wenn ein Zug durch meinen Kopf braust, und auf einmal habe ich das Gefühl, dass die Häuser über mir zusammenbrechen. Am anderen Ende der Straße stehen ein paar stinkende Müllcontainer. Ein Mann in einer Kochuniform kommt aus einer Hintertür und wirft zwei schwarze Plastiksäcke hinein. Bevor er die

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