Blutskinder
T-Shirts, einen Rock in Größe 44 und eine Kulturtasche mit echt hübschen Sachen drin. Ich behalte fürs Erste meine Kleider an, wickele Ruby aber in den Frotteeanzug, weil ihr eigenes Zeug stinkt. Im Waschbecken spüle ich ihre schmutzigen Sachen aus, packe die Lebensmittel, die der Mann am Bahnhof vergessen hat, in meine neue Tasche und mache mich auf den Weg durch das Gewirr der Hotelflure.
Es wirkt ganz normal, wenn man in einem Hotel Gepäck mit sich herumträgt. Alle paar Meter ist eine Tür; meistens führt sie zu einem ganz gewöhnlichen Zimmer, aber manchmal steht ein Name dran, wie Balmoral Suite oder Windsor Room. Ich rüttele an ein paar Türknäufen, aber überall ist abgeschlossen. Mit dem Aufzug fahren wir ein Stockwerk höher und probieren auch da, ob eine Tür offen ist. Auf halber Höhe des Korridors halten zwei Putzfrauen ein Schwätzchen. Dabei lehnen sie sich an ein Wägelchen mit Bettwäsche und Kaffeetütchen und einzeln eingepackten Keksen. Sie stehen vor einem Raum, der wie eine Vorratskammer aussieht. Anscheinend wollen sie gerade Feierabend machen.
»Das erledige ich morgen früh, Sandra«, sagt die eine gerade. Ich gehe langsam an ihnen vorbei und spitze die Ohren. Und weil ich mich ganz selbstbewusst gebe, so wie es Onkel Gustaw gesagt hat, merken sie nicht, dass ich einen verstohlenen Blick in die kleine Kammer werfe. Ein paar Meter von ihnen entfernt bleibe ich stehen und tue so, als würde ich etwas in meiner Tasche suchen, und als sie ihren Wagen in die Kammer geschoben haben und weggegangen sind, mache ich einen Satz und klemme einen Fuß zwischen Tür und Rahmen, bevor sie zufallen kann.
»Was hältst du davon, Ruby?« Zwischen all den Stapeln von Bettwäsche und Handtüchern klingt meine Stimme ganz dumpf.
Ich bin richtig stolz auf mich, weil ich einen Unterschlupf für die Nacht gefunden habe. Die Putzfrauen kommen bestimmt nicht vor morgen früh zurück, also können wir es uns in Ruhe gutgehen lassen – mit den Kissen und Bettdecken und Laken und den Mini-Whiskyfläschchen und den Tütchen mit Zucker, den man mit dem feuchten Zeigefinger aufstippen kann.
Nachdem ich Ruby auf einem Kissen abgelegt habe, lasse ich meine Arme wie Windmühlenflügel kreisen. In dem kleinen Raum mit den Regalen und dem Wägelchen ist gerade genug Platz dafür. Dann streife ich die Turnschuhe ab und mache uns auf dem Fußboden ein Nest aus Kissen und Bettdecken, genau wie eine Vogelmutter. Aus der Sporttasche hole ich eine Packung mit Keksen, reiße sie auf und esse gleich drei auf einmal. Außerdem ist da noch eine Büchse Erbsen, mit der ich ohne Öffner nichts anfangen kann, ein Eisbergsalat, eine Tüte Möhren, eine Dose Frühstücksfleisch, das ich so gern mag, und ein Päckchen Kräcker.
»Das wird vielleicht ein Festessen!«, jauchze ich, und Ruby spuckt ihre ganze Milch auf unser Nest. Also hole ich eine neue Decke aus dem Regal.
Ich mache mir ein frühes Abendessen aus Kräckern mit Dosenfleisch und Salat und einer schönen knackigen Möhre dazu. Zum Nachtisch gibt es mit Whisky beträufelten Zucker. Danach schlafe ich stundenlang. Ruby liegt an meinen Körper geschmiegt. Sie ist wirklich ein braves Baby.
Am Ende musste ich doch von dort weg. Ich faltete am Morgen die bespuckte Decke zusammen, legte die Kissen wieder an ihren Platz und schob die Sachen auf dem Wägelchen so zurecht, dass niemand merkte, dass etwas fehlte. Aber nachdem ich zwei Nächte in der Vorratskammer verbracht hatte, war es nur eine Frage der Zeit, wann man mich entdecken würde.
Als ich am Morgen nach meinem Festessen aufwachte, fühlte ich mich elend. Ich räumte die Kammer auf und lungerte den ganzen Tag in einem Einkaufszentrum herum. Ich gab ein bisschen Geld für Damenbinden und eine heiße Schokolade aus und betrachtete unschlüssig einen leeren Kinderwagen, der vor der Tür zur Damentoilette stand. Wenn sie nicht so schnell zurückgekommen wäre, wäre es meiner gewesen.
Der zweite Abend verlief genauso wie der erste. Wir duschten noch mal und kuschelten uns dann in der Vorratskammer zusammen. Ich träumte davon, wie es wäre, wenn ich ein hübsches Haus hätte und einen Job, bei dem ich ein paar hundert Pfund die Woche verdienen würde. Am frühen Morgen verschwanden wir, ohne eine Spur zu hinterlassen. Schließlich soll man sein Glück nicht herausfordern.
Jetzt trotten wir also am vereisten Straßenrand entlang und versuchen, per Anhalter nach London zu kommen. In der Nähe muss eine Autobahn
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