Blutskinder
ein Päckchen Reinigungstücher in meine Plastiktüte.
»Tschüss«, sage ich und gehe hinaus in den Laden, wo ich eine Stunde lange herumspaziere. Ich stehle einen Lippenstift, obwohl ich es gar nicht vorhatte. Aber ich habe noch nie einen besessen. Ungehindert verlasse ich das Kaufhaus, und kurz darauf sitze ich mit einer Tasse Tee bei McDonald’s und muss lachen.
Draußen ist es dunkel. Ruby und ich haben Spaß miteinander. Sie ist froh, weil sie jetzt trocken und satt ist. Als ich mir die Lippen leuchtend rot bemale, gurgelt sie noch lauter. Anscheinend gefalle ich ihr so.
Ich hätte nie gedacht, dass ich weglaufen würde, und dass es so leicht wäre. Vielleicht war das ja schon immer mein Fehler – ich denke einfach nicht nach. Ich hätte nie gedacht, dass ich schwanger werden könnte oder dass irgendjemand mich unscheinbares Geschöpf gern genug haben könnte, um mich schwanger zu machen. Aber daran will ich nicht denken, also kneife ich ganz fest die Augen zusammen, bis die Erinnerung verschwunden ist.
Ich sitze an einem großen Fenster. Weil es draußen dunkel ist, kann ich in der Scheibe mein Spiegelbild sehen. Tiefe dunkle Augenhöhlen und blasse Haut, über Wangenknochen gespannt, die irgendwie, na ja, zu knochig sind. Mein Pony ist fransig, und eine richtige Frisur hatte ich sowieso noch nie. Mutter hält nichts von Eitelkeit. Seit ich denken kann, leiert sie mir immer wieder die alte Geschichte vor, wie schlimm es dem polnischen Volk im Krieg ging und wie das mit dem Einmarsch der Nazis war und dem Warschauer Ghetto und dem Aufstand. Seit damals, sagt sie, gibt es in unserer Familie keine Eitelkeit mehr. Meine Vorfahren hätten gelitten, damit ich leben kann, aber ich würde nie im Leben so viel Mut aufbringen wie meine Großeltern, als sie aus Polen flüchteten.
Was sie damit sagen wollte, habe ich nie verstanden. Im Geschichtsunterricht haben wir den Krieg durchgenommen, und es ist sicher schrecklich gewesen, aber das ist doch nicht meine Schuld! Ich schwöre mir, dass ich einmal eitel werden will, weil Mutter nicht da ist und weil der Krieg mittlerweile vorbei ist.
Mir geht es ganz gut. Ruby und ich sind im Holiday Inn. Wegen dem Baby musste ich unbedingt einen Platz für die Nacht finden. Schließlich hatte ich keine Lust, bei dieser Kälte in einen Ladeneingang zu kriechen. Auf dem Weg vom Kaufhaus entdeckte ich auf einmal wie ein rettendes Licht die Neonschrift des Hotels. Ich wollte schon immer mal in einem richtigen Hotel wohnen, aber Mutter und Vater fuhren in den Ferien immer nur in diese Familienpensionen mit den muffigen Laken und den wild gemusterten Teppichen. Das hier ist viel schöner.
Ein bisschen komisch sehe ich sicher aus, in meinem alten Parka und den Turnschuhen, aber ich glaube, mit dem Lippenstift gehe ich für zwanzig durch. Hier gibt es eine nette Bar mit Sofas und Lampen und durch alle Räume flattert leise Musik, wie Schmetterlinge mitten im Winter. Ruby gefällt es jedenfalls. Als sie die Musik hört, beruhigt sie sich sofort und hört auf zu schreien.
Onkel Gustaw hat mal zu mir gesagt, dass man vor allem eines braucht, wenn man etwas erreichen will, und das ist Selbstvertrauen. Er muss es ja wissen. Also gehe ich lächelnd und mit erhobenem Kopf an der Rezeption vorbei und halte Ruby so, dass jeder sie sehen kann. Ich habe festgestellt, dass man mit einem Baby gleich vertrauenswürdiger wirkt.
Auf dem Schild über meinem Kopf steht »Zum Schwimmbad«. Ein bisschen Schwimmen wäre jetzt nicht schlecht. Im Damen-Umkleideraum zwängen sich gerade zwei ältere Frauen in ihre Badeanzüge. Es riecht nach warmen Körpern und Chlor. Ich setze mich auf eine Bank und spiele ein bisschen mit Ruby herum, bis die beiden ihre Sachen in einem Schließfach verstaut haben. Sie fluchen leise, weil das Schloss ihre Münze nicht annimmt. Das bringt mich auf eine Idee. Die Frauen gehen ins Schwimmbad und unterhalten sich dabei über ihre Enkelkinder.
Ruby und ich duschen lieber. Ich presse ihren nackten Körper ganz fest an mich und wasche uns mit der Seife aus dem Spender, bis wir strahlend sauber sind. Es gibt dort sogar weiche Handtücher. Ich hoffe, die beiden Frauen nehmen es mir nicht allzu übel, dass ich die Gelegenheit nutze, aber schließlich kann ich ja nichts dafür, dass das Schließfach nicht zuging. Sie hätten sich eben ein anderes suchen sollen.
In ihrer Sporttasche finde ich zwei Garnituren riesengroßer Unterwäsche, einen Frottee-Trainingsanzug, ein paar
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