Blutskizzen
Milde Empörung, fast echt.
»Dazu kommen wir schon noch, keine Angst.«
11 Uhr 34
»Jedenfalls bin ich mit der Arbeitssituation in der Firma zufrieden. Der Umstand, dass ich neben der reinen Bürotätigkeit hin und wieder auch kleinere Transportfahrten unternehmen kann, lockert das Ganze sehr auf.«
»Hin und wieder...«
»Na ja, es kommt in einigen Wochen schon mal etwas öfter vor, dass einer fahren muss, aber ich bin ja auch nicht der Einzige, der fährt, auch Herr Korte macht den ein oder anderen Auftrag.«
Lassen wir ihm ein paar Momente Zeit. Wo geht es jetzt hin?
»Sie haben vorhin von Ihrem Erweckungserlebnis gesprochen. Ihr Chef, Herr Müller, hat bei einem Gespräch auch so etwas erwähnt.«
Er lässt sich ein paar Sekunden Zeit. Was heißt das? Hat Müller mit ihm gesprochen?
»Ich kann mir nicht im Geringsten vorstellen, was das hiermit zu tun haben soll.«
»Es geht um Ihre Lebenssituation, Herr Michels, und es scheint ja nun sehr wichtig für Sie zu sein. Daher denke ich, dass es schon eine Bedeutung hat. Wie muss ich mir das vorstellen, wie geht so etwas vor sich?«
Er überlegt länger, zuckt mit den Mundwinkeln.
»Es war im August 98, am 03. 08, um genau zu sein. Ich war mit dem Wagen unterwegs auf der A 9 nach München, weshalb, weiß ich heute nicht mehr. Es gab einen Stau, und ich entschloss mich, weil es über zehn Kilometer waren, von der Autobahn abzufahren. In einem kleinen Ort bekam ich Hunger und kaufte mir bei einem fahrenden Fischhändler, der gerade ein paar Hausfrauen bediente, etwas zu essen. Eine geräucherte Makrele, zwei Brötchen und eine Dose Cola. Ich fuhr auf einen Parkplatz, es war der Parkplatz der Kirche in dem Ort, setzte mich auf eine Bank und wollte essen. Da saß auf der Bank daneben ein alter Mann, den ich bis dahin überhaupt nicht bemerkt hatte. Er sah furchtbar aus, abgemagert und ungepflegt, und sah mich an. Ich konnte nicht anders und fragte ihn, ob er etwas zu essen haben wollte. Ich habe ihm dann etwas gegeben von dem, was ich hatte. Er aß, und die einzigen Worte, die er zu mir sprach, waren: ›Du hast schwer gesündigt in deinem Leben, doch wenn du den richtigen Weg einschlägst, ist Licht in deinem Herzen.‹ Dann stand er auf und ging in die Kirche. Ich hatte diesen Mann noch nie gesehen, und er konnte nichts von mir wissen, dennoch sagte er dies zu mir. Es ging etwas Unglaubliches von ihm aus. Ich weiß nicht, ob Sie so etwas verstehen. Als ich ihm wenig später in die Kirche folgte, war er dort nirgends zu finden.«
Er macht eine kleine Pause.
»Wissen Sie, vielleicht hat er das Gebäude auf anderem Wege wieder verlassen, und ich will das alles auch nicht mystifizieren, aber mir war klar: In diesem Augenblick hatte Gott zu mir gesprochen.«
Ohne Peinlichkeit, nichts Lächerliches, überzeugend wie ein Staubsaugervertreter. Hat er schön geübt.
»Und danach haben Sie Ihr Leben verändert?«
»Gott hat mein Leben verändert.« Er zieht die Brauen hoch. »Wissen Sie, ich habe das Gefühl, dass Sie das nicht verstehen, darum will ich das auch gar nicht weiter ausführen. Aber ich habe erfahren, was es bedeutet, angenommen zu sein, so wie ich bin.«
Halleluja, Alter. Die Vorstellung war nicht schlecht.
Aufstehen, Blick von oben.
»Kommen wir noch einmal zu Ihrer Arbeit zurück, Herr Michels. Am 19. 10. dieses Jahres, einem Mittwoch vor etwa sechs Wochen, haben Sie gearbeitet. Können Sie sich an diesen Tag erinnern?«
Er trinkt etwas, nimmt sich einen Moment.
»Nein, so ad hoc kann ich das nicht.«
»Können Sie nicht?«
»Ich müsste einen Augenblick nachdenken. Oder könnten Sie mir sagen, was Sie am Donnerstag vor sieben Wochen gemacht haben?«
»Sie haben an dem Tag eine Kurierfahrt unternommen, und zwar Richtung Hamburg. Hilft Ihnen das?«
Er tut so, als käme es ihm langsam.
»Zu Kamp und Johnsten, ja, das könnte sein. Für die Firma hatten wir schon einmal eine Lieferung in der Vergangenheit.«
»Sie können sich daran erinnern?«
»Ja, ich bin dahingefahren.« Hat sich seine Miene verändert? Kurz gezuckt, oder? »Aber das Ganze ist natürlich sechs Wochen her, so genau habe ich da die Einzelheiten nicht mehr im Kopf.«
»Mal sehen, wie genau es geht. Schildern Sie uns doch einfach den Tag beziehungsweise die Fahrt, wie Sie sie in Erinnerung haben.«
Er atmet tief durch, setzt sich anders hin. Na, mein Freund, Probleme?
»Kann ich vorher noch einmal zur Toilette?« Verdammte braune Sau. Zeit gewinnen.
»Schon
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