Blutspur des Todes
nach etlichen Whiskeys. »Du könntest es eines Tages bekommen, und vielleicht stellst du dann fest, dass es dir nicht gefällt.«
Andrew schüttelte den Kopf und sah noch einmal in den Rückspiegel. Nein, er war nicht so wie Dad. Ein Leben lang hatte er sich gegen dessen negative Einstellung gewehrt und sich bemüht, die Welt anders zu sehen. Und trotzdem waren es die Augen seines Vaters, die ihn jetzt ansahen, als wollten sie ihn warnen.
7. Kapitel
10.03 Uhr
Cracker Barrel
Melanie sah ihn schon, als sie auf den Parkplatz fuhr, und unwillkürlich zog sich ihr Magen zusammen. Sie wusste, dass Jared nicht gerne wartete. Er saß in einem hölzernen Schaukelstuhl, ganz am Ende der Veranda des Restaurants.
Sie sah auf ihre Armbanduhr und stellte erleichtert fest, dass sie pünktlich war. Okay, vielleicht eine Minute zu spät, aber nicht mehr. Jared hatte es sich bequem gemacht und die Füße auf das Geländer gelegt, als mache er ein Nickerchen.
Doch sie wusste, dass er sauer war, weil nicht sie zuerst da gewesen war und auf ihn wartete. Und erst recht, weil sie jetzt noch nicht mal mit quietschenden Reifen vorfuhr. Mit anderen Worten, weil sie nicht mehr das kleine Mädchen war, das zu ihrem großen Bruder aufschaute, ständig bemüht, ihm zu gefallen. Das kleine Mädchen wäre pünktlich, nein, sogar vor der Zeit hier gewesen.
Er nickte zur Begrüßung, ohne sie wirklich anzusehen.
Irgendwie wirkte er verändert. Darauf war sie nicht vorbereitet. Er grinste, und das war kein gutes Zeichen. Jared grinste nur in bestimmten Situationen, und keine davon hatte etwas mit Freude oder Heiterkeit zu tun. Dieses Grinsen hieß: Ich hab jetzt was gut bei dir, du stehst in meiner Schuld. Hätte sie noch Appetit gehabt, was ohnehin nicht der Fall war, wäre er ihr spätestens jetzt vergangen.
Ohne jeden Anflug von Eile nahm er erst den einen Fuß vom Geländer und ließ ihn mit einem dumpfen Aufprall auf dem Holzfußboden landen, dann den anderen. Er stemmte sich aus dem Schaukelstuhl und griff nach dem Rucksack, den Melanie erst jetzt bemerkte.
»Der gehört Charlie«, sagte sie anstelle einer Begrüßung und deutete auf das abgewetzte blau-violette Ding mit den schwarz-weißen Aufnähern an den Ecken. Das verschlissene alte Teil würde sie überall erkennen. Natürlich könnte sich Charlie einen neuen klauen – zum Teufel, er könnte ein Dutzend klauen –, aber der Junge schleppte dieses Ding nun schon so lange mit sich herum, fast wie der bemitleidenswerte Charlie Brown seine alte Schmusedecke, ohne die er sich nicht sicher fühlte in der großen kalten Welt. Oder war das Linus gewesen? Egal, einer dieser ballonköpfigen Jungs aus dem Comicstrip
Peanuts
jedenfalls. Charlie, der sich vor nichts und niemand fürchtete, schien diesen alten Segeltuch-Rucksack zu brauchen wie Superman sein rotes Cape. »Ist er auch hier?«
fragte sie und sah sich um, ohne aber den Pick-up ihres Sohnes auf dem Parkplatz zu entdecken.
»Nein«, erwiderte Jared. Er hatte sein Grinsen eingestellt und verzichtete auf weitere Erklärungen. »Aber er wird gleich kommen.«
Wie zur Bestätigung warf sich Jared den Rucksack mit ausholender Bewegung über die Schulter, als wolle er ihr demonstrieren, dass er schließlich einen guten Köder besaß.
Aber das war ein lächerlicher Gedanke. Charlie liebte seinen Onkel, er sah zu ihm auf wie zu einem Vater. Er hatte Jared sogar im Gefängnis besucht, während sie sich nie dazu hatte überwinden können. Sie hatte sich mit dem Telefon und ein paar Briefen begnügt. Natürlich hatte sie nichts gegen die Besuche einzuwenden gehabt. Sie wusste, dass Charlie eine Vaterfigur brauchte, denn von der Trauergestalt, die sein leiblicher Vater war, konnte er kaum lernen, wie man zum Mann wurde.
»Ohne dieses Ding geht er nie los«, sagte sie, als hätte sie Jareds Bemerkung nicht gehört. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Charlie seinen Rucksack freiwillig zurückgelassen hatte – nicht einmal bei Jared –, da er das komplette Sortiment seiner »Wertgegenstände" enthielt, wie Charlie das nannte. »Weißt du, wo er steckt?«
»Er erledigt was für mich.«
Jared ging vor in das Restaurant, ohne ihr die Tür aufzuhalten. Ein grauhaariger Mann mit einer gebeugt gehenden Frau auf dem Weg nach draußen warf ihm einen empörten Blick zu. Doch solche Tadel waren an Jared verschwendet. Er bemerkte sie nicht einmal, Melanie wusste das. Doch Jareds Unhöflichkeit machte ihr nichts aus. Sie brauchte keinen Mann,
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