Blutspur des Todes
keine Sorgen«, erwiderte sie und drückte Vince die Hand. »Es ist alles okay. Das ist es doch immer, oder?«
Er lächelte und schien beruhigt. Dass sie die ganze Zeit über die Ankommenden und Abreisenden beobachtet hatte, um sich zu vergewissern, dass Jared Barnett nicht darunter war, hatte er nicht bemerkt.
6. Kapitel
9.50 Uhr
Interstate 80
Andrew Kane nutzte die Lücke, trat aufs Gaspedal und wechselte auf die Überholspur. Allmählich gewöhnte er sich daran, nur mit einer Hand zu lenken. Er sah auf den Tacho, obwohl das eigentlich überflüssig war, denn der Verkehr war so zäh, dass er auch auf der Überholspur nur mit fündundvierzig Meilen vorankam. Aber der kurze Blick auf die Nadel war zu einer Art Reflex geworden, gegen den er scheinbar machtlos war. Das wurmte ihn, denn durch seine Einschränkung fühlte er sich in dem dichten Verkehr unsicher und wollte die Augen lieber auf der Straße behalten.
Andererseits lief er so wenigstens nicht Gefahr, seinen Schlamassel noch durch einen Strafzettel wegen Geschwindigkeitsübertretung zu vergrößern.
Seit er den knallroten Saab 9-3 vom Hof des Händlers gefahren hatte, schien der Wagen das Polizeiradar wie magisch anzuziehen. Vielleicht war das ja die Strafe dafür, dass er sich diese herrliche Protzerei erlaubt hatte. Als müsse er etwas erklären, hatte er sich auch noch für das Kennzeichen A WHIM – eine Laune – entschieden. Warum konnte er den Wagen nicht einfach als die wohl verdiente Belohnung ansehen, die er war? Nachdem er sich sechs Jahre von einem Überziehungskredit zum nächsten gehangelt hatte, konnte er nun endlich die Früchte seiner Arbeit ernten. Weniger prosaisch ausgedrückt hieß das, dass die Honorarabrechnung für seine inzwischen fünf Romane in diesem Jahr beträchtlich ausgefallen war. Das Auto symbolisierte für ihn, dass die Zeit des Strampeins der Vergangenheit angehörte, und gleichzeitig kam es ihm wie das materialisierte Versprechen einer besseren Zukunft vor.
Er sah in den Rückspiegel. Der Verkehr floss so gleichmäßig, dass er es wohl wagen konnte, die steife Baumwollbandage um seinen Hals und die Schultern etwas zu lockern. Das Ding drohte ihn zu ersticken. Es kratzte bei dieser Hitze wie verrückt und machte ihn fast wahnsinnig.
Zwar hatte ihm der Arzt prophezeit, er würde das Gestell nach einer Weile gar nicht mehr spüren, doch inzwischen waren drei Wochen vergangen.
Der rechte Arm war praktisch an seinen Oberkörper gefesselt, und auch das Versprechen des Arztes, es würde ihm bald vorkommen, als habe er nie einen zweiten Arm gehabt, konnte er nicht recht nachvollziehen. Der Mann hatte sich offenbar noch nie das Schlüsselbein gebrochen und ohne die wichtige Hand, den entsprechenden Arm, ja eigentlich ohne die ganze rechte Körperseite auskommen müssen.
Er tat seinen Unfall gern als schlichten Sturz mit dem Fahrrad ab, aber insgeheim sah er die Verletzung als Bestätigung der ernüchternden Erkenntnis, dass es mit seinem dreiundvierzigjährigen Körper bergab ging. Anscheinend waren hoher Blutdruck und gebrochene Knochen ebenso der Preis für die jahrelange harte Arbeit wie sein Erfolg. Sein Arzt hatte den Unfall jedenfalls als Alarmsignal gedeutet:
»Dämmen Sie den Stress ein, schreiben Sie weniger.«
Andrew schüttelte den Kopf, als er daran dachte. Vielleicht sollte er sich einen anderen Arzt suchen. Er warf einen Blick zur Seite auf die abgegriffene Ledertasche auf dem Beifahrersitz. Sie hatte ihn während der Arbeit an allen fünf Romanen begleitet. Ein Geschenk von Nora damals, als sie an ihn geglaubt hatte und daran, dass er es schaffen würde. Das war, bevor sie begriff, was es bedeutete, wenn man einen Traum wahr werden lassen wollte: Schulden, Quälerei und Verzicht. Verzicht vor allem auf Ehe und Kinder. Sie hatte ihm vorgeworfen, sich hinter seiner Arbeit zu verstecken, um nur ja keine feste Bindung eingehen zu müssen. Er hatte das lächerlich genannt und abgestritten. Er fühlte sich unverstanden. Erst als sie aus seinem Leben verschwunden war, wurde ihm langsam klar, dass sie vielleicht Recht gehabt hatte. Möglicherweise hatte er wirklich die Tendenz, Menschen aus Angst vor zu viel Nähe auf Distanz zu halten.
Oft lebte es sich so weitaus einfacher. Und wenn er ehrlich war, dann war er tatsächlich am liebsten allein.
Normalerweise war die Tasche prall gefüllt mit Manuskriptseiten, oft übersät mit roten Korrekturen, die Ecken umgeknickt, an den Rändern Ringe von Kaffeebechern oder
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