Blutspur des Todes
Nebraska
Andrew lehnte sich gegen die Wand der Dusche und ließ sich vom warmen Wasser die lädierte Stirn massieren. Das Pochen in seinem Kopf wollte nicht aufhören, doch war der Grund dafür weniger seine Verletzung. Er wurde das Bild von der emsigen kleinen Frau an der Tankstelle einfach nicht los, die hatte sterben müssen, weil er einen Fehler begangen hatte.
Er musste etwas tun, um diesem Wahnsinn ein Ende zu bereiten. Ihm war klar geworden, dass Jared ihn nicht laufen lassen, sondern ebenfalls umbringen würde. Zuerst hatte ihn diese Erkenntnis in lähmende Panik versetzt, doch inzwischen wuchs in ihm wieder die Kraft, sich seinem Schicksal zu widersetzen.
Umso enttäuscher war er nun, als er im Bad nichts als ein paar Portionspackungen Shampoo, Haarfestiger, Mundwasser und Zahnpasta vorgefunden hatte. Nichts, was sich hätte als Waffe benutzen lassen. Die Dusche hatte statt einem Gestänge mit Vorhang eine Plexiglastür, was ihn weniger desillusionierte, denn sein Versuch mit der Kleiderstange war ja nicht gerade erfolgreich gewesen. Sogar im Spülkasten der Toilette hatte er nachgeschaut und festgestellt, dass fast die gesamte Mechanik aus Plastikteilen bestand. Er wusste eigentlich gar nicht, was er zu finden gehofft hatte, denn in Hotelzimmern gab es üblicherweise weder Rasierklingen noch Nagelfeilen. Nicht einmal in den wirklich guten, in denen er in den vergangenen zwei Jahren während der Werbetouren für seine Bücher oder seiner Recherchen für ein neues übernachtet hatte.
Er hätte sich gern seine Bandagen von Schulter und Arm gerissen, um wieder voll beweglich zu sein. Dann hätte er es vielleicht mit Jared aufnehmen können. Doch wie die Dinge lagen, konnte er sich nicht einmal richtig unter der Achselhöhle waschen, ohne einen stechenden Schmerz zu verspüren. Zu Anfang hatte er es nicht einmal gewagt, den Arm auch nur so weit anzuheben, dass ein Schwamm darunter passte, doch auf Dauer hatte er seinen Mitmenschen diesen Zustand nicht zumuten können. Der feuchtheiße Sommer in Nebraska war wirklich keine ideale Zeit für einen Schlüsselbeinbruch.
Sein Vater hätte sicher nur lakonisch bemerkt, was ihm widerfahren sei, geschehe ihm ganz recht. In einem Winkel seines schmerzenden Kopfes hörte er seine Stimme: »Immer steckst du deine Nase in diese verdammten Bücher. Ich kann es dir nicht austreiben, was?« Er erinnerte sich an zahllose Tadel, die er sich als Kind eingefangen hatte, wenn sein Vater ihn wieder mal mit einem Buch erwischte, anstatt den Hühnerstall auszumisten – was im Übrigen erst zu seinen Pflichten gehört hatte, seit er so viel las. Doch noch so viel Tadel und noch so viel zusätzliche Arbeit konnte seine Neugier nicht dämpfen. Er wollte lesen, Dinge erfahren und Träumen nachjagen, die über die Grenzen seiner kleinen Welt hinausgingen. Sehr zum Leidwesen seines Vaters, der von ihm erwartete, den Hof zu übernehmen, wenn er eines Tages nicht mehr da war. Andrew jedoch hatte es nicht erwarten können, die Farm zu verlassen.
Er musste an Charlie denken, der begierig in seinen Comicheften las. Warum hatte er vorhin bloß so heftig reagiert, als im Fernsehen das Bild dieser Kellnerin gezeigt wurde?
Eigentlich hatte er Melanie für das schwächste Glied in der Kette gehalten. Inzwischen war er sich nicht mehr sicher. Er überlegte, was er über die psychologischen Auswirkungen eines Mordes auf die Täter wusste. Wenn er sich schon schuldig am Tod der Verkäuferin fühlte, obwohl er nicht mal eine Waffe in der Hand gehabt hatte, wie musste Charlie dann zu Mute sein? Ob es ihm wohl gelingen könnte, den Jungen auf seine Seite zu ziehen?
58. Kapitel
23.17 Uhr
Melanie konnte nicht schlafen. Charlie hatte sich auf dem Bett zusammengerollt und schnarchte. So viel zu seinen Schuldgefühlen. Aber sie verspürte Erleichterung darüber, ihn jetzt wie ein Baby schlafen zu sehen, denn sie wollte den Gedanken nicht zulassen, dass er etwas getan haben könne, für das er sich schuldig fühlen musste.
Andrew Kane hatte sich neben Charlie auf der anderen Seite des Bettes ausgestreckt. Jared hatte darauf bestanden, ihn an Händen und Füßen zu fesseln. Dazu hatte er das Kabel des Telefons in zwei Teile geschnitten. Sachbeschädigung war für ihn kein Thema, und zum Telefonieren hatte er ja Andrews Handy. Hatte er vielleicht wieder seinen Kontaktmann angerufen, als er vorhin hinausgegangen war? Sie fragte sich, wer das sein mochte. Jareds Geheimniskrämerei ging ihr jedenfalls ganz
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