Blutspur des Todes
gehörig gegen den Strich. In ihrer Lage konnten sie sich so etwas überhaupt nicht leisten. Jareds Verhalten kam ihr langsam vor wie ein Verrat.
Sie beobachtete ihren Bruder im Lichtschein des Fernsehers. Nachdem er alle Lampen gelöscht und die Vorhänge zugezogen hatte, hatte sie ihn überredet, das Fernsehgerät ohne Ton eingeschaltet zu lassen. Jetzt saß Jared an dem kleinen Tisch und schlief mit aufgestützten Ellbogen.
Von Zeit zu Zeit rutschte sein Kopf zwar von einer seiner geballten Fäuste, doch er schien davon nicht aufzuwachen.
Sie beneidete ihn darum, einen so festen Schlaf zu haben.
Als sie noch Kinder waren, hatte er ihr beigebracht, wie man am besten einschlief. Der Trick war, sich alles vorzustellen, was man besonders gern hatte. Sie hatte sich eine Liste machen müssen: Zuckerwatte, die Bee Gees, Riesenräder, geröstete Maiskolben. In jenem Sommer hatte er sie mit auf die Kirmes genommen, also hatten die meisten ihrer Lieblingsdinge damit zu tun.
Seine Methode hatte ihr tatsächlich oft geholfen und sie über vieles hinweggebracht, was ihr den Schlaf raubte – vor allem die Angst. Die Angst, dass ihr Vater wieder ins Zimmer kam, sie weckte, die Bettdecke wegriss und sie mit eiskaltem Wasser übergoss oder sie an den Knöcheln packte und aus dem Bett schleifte. Das war nicht das Schlimmste gewesen.
Noch heute meinte sie manchmal den Schmerz der Peitschenschläge zu spüren und den Gestank verbrannter Haut zu riechen. Es war ihre Haut gewesen, die unter der roten Glut seiner Zigarette verbrannt war.
Melanie schüttelte den Kopf. Sie sollte nicht gerade jetzt daran denken, aber eines durfte sie nie vergessen: Jared hatte in jener Nacht getan, was getan werden musste. Dafür stand sie in seiner Schuld, und diese Schuld konnte sie niemals abtragen. Das wusste auch er. Selbst wenn sie ihn bei dieser Geschichte mit Rebecca Moore durch ein Alibi gedeckt hätte, wären sie noch längst nicht quitt.
Sie würden nie quitt sein. Und jetzt steckten sie wieder in einer Klemme, nur war es diesmal schlimmer. Diesmal hatte Jared ihren Jungen, ihr Baby, ihren kleinen Charlie in das alles hineingezogen. Sie vermochte nicht zu sagen, ob sie ihm das jemals verzeihen würde.
Sie stand auf, um ins Bad zu gehen, und sah das Handy auf der Anrichte liegen. Ein kurzer Blick zu Jared – er atmete tief und gleichmäßig. Sie nahm das Handy mit ins Bad, schloss leise die Tür und verriegelte sie. Dann klappte sie das Gerät auf und betrachtete die Tasten. Es musste eine geben, die ihr verriet, was sie wissen wollte.
Sie drückte auf ,Menü' und gelangte schließlich zu der Auflistung seiner letzten Telefonate. Das ging ja einfacher als gedacht. Tatsächlich hatte er vor ungefähr einer Stunde telefoniert, der Anruf war mit Datum, Zeitangabe, der Telefonnummer und dem Namen des Teilnehmers verzeichnet.
Sie suchte weiter und fand schließlich den Anruf vom Morgen.
Dieselbe Nummer, derselbe Name.
Warum stand Jared in ständigem Kontakt mit seinem Anwalt? Und vor allem: Warum vertraute er Max Kramer mehr als ihr?
Fünfter Teil
ENTSCHEIDUNG AUF LEBEN UND TOD
Freitag, 10. September
59. Kapitel
7.45 Uhr
Comfort Inn, Hastings, Nebraska
Melanie erwachte vom Geräusch einer Tür, die zugeschlagen wurde. Sie brauchte eine Weile, bis sie sich erinnerte, wo sie war. Durch den Spalt zwischen den Vorhängen fiel Sonnenlicht, und von irgendwoher drang der Duft frisch aufgebrühten Kaffees in das Zimmer. Das Letzte, woran sie sich erinnerte, war, dass sie sich auf dem Bett ausgestreckt und im Spätprogramm einen Horrorfilm angesehen hatte. Dann hatte sie an rosa Zuckerwatte gedacht, und jemand hatte eine Decke über sie gebreitet. Sie hatte sich hineingekuschelt und die Arme um das Kissen geschlungen.
Sie richtete sich auf, stützte sich auf den Ellbogen und sah, dass Charlie fort war. Andrew Kane lag noch gefesselt auf dem Bett, allerdings hatte er sich mit dem Rücken gegen das Kopfteil des Bettes gelehnt.
»Wo sind Jared und Charlie?« fragte sie und rieb sich den Schlaf aus den Augen.
»Jared ist im Bad. Wohin er Charlie geschickt hat, weiß ich nicht.«
»Er hat Charlie weggeschickt?« Sie setzte sich auf und ließ den Blick durch den Raum schweifen, bis sie Charlies Rucksack entdeckte.
»Sie lieben ihn sehr, nicht wahr?«
Sie musterte ihn forschend, als suche sie in seinem Gesicht nach einem Hinweis, wie die Frage gerneint war.
»Sie verstehen das nicht«, erwiderte sie. »Wir sind schon lange auf uns selbst
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