Blutspur
konnte, lag nur daran, weil sie früher bei einer Familie als Dienstmädchen gelebt hatte. Dort war sie von einer älteren Hausangestellten unterrichtet worden und hatte meine Vater kennengelernt, der sich um die Reparaturarbeiten des Anwesens gekümmert hatte.
Als die Besitzer starben, waren sie plötzlich ohne Lohn und Brot, weil die Erben mit ihren Angestellten einzogen. Meine Eltern wurden nicht mehr gebraucht. Sie fanden nie mehr eine so gute Stelle und Bezahlung, was sie in diese unglaubliche Armut rutschen ließ, in der wir uns befanden, bis ich 25 wurde.
Das war der Zeitpunkt, an dem ich – viel zu spät – aufwachte. Es waren gute Tage gewesen. Spätsommer, ein Himmel, an dem es keine einzige Wolke gab und zum ersten Mal seit Langem vielversprechend. Wir aßen gerade eine warme Mahlzeit seit Wochen, Reissuppe mit ganz viel Gemüse, weil ich von Mrs. Blanchett großzügig entlohnt worden war. Sie war der Ansicht, dass ihr verwilderter Garten, für den ich drei Wochen geackert hatte, nie schöner ausgesehen hatte. Innerlich hatte ich ihr zugestimmt. Noch nie hatte ich solche überwucherten Brennsesselsträucher bekämpft und Unkraut in Massen ausgerupft. Es war wahrlich eine Herausforderung gewesen, die aber nun ihre Früchte getragen hatte. Wir lachten und scherzten, aßen begierig und lobten unsere Mutter für ihre Kochkünste.
Plötzlich wurde Elias still. Er versuchte, ein Stück Fleisch herunter zu schlucken, hustete und verdrehte die Augen. Ich ließ den Löffel klirrend auf den angesprungenen Teller fallen, war sofort bei ihm und klopfte leicht auf seinen Rücken, damit er das Essen nicht in die Speiseröhre bekam. Er spukte es aus und fing an zu zittern. Mein Vater sprang auf und hob ihn auf seine Arme, bevor er am Tisch zusammensackte.
Er legte ihn behutsam auf das karge Bett mit den durchlöcherten Decken. Meine Mutter, die entsetzt aufgeschrien hatte, fasste Elias' Stirn an.
„ Zu heiß“, rief sie immer wieder aufgebracht, „viel zu heiß.“
Sie holte ein Tuch, das sie in eine Blechschüssel mit kaltem Wasser legte, ein wenig auswrang und ihm auf die Stirn drückte.
„ Wir müssen ihn zu einem Arzt bringen“, sagte sie, während es in mir Klick machte. Ich wusste genau, dass sie den Tierarzt meinte, denn ein anderer Ausweg blieb uns nicht. So konnte und durfte es nicht weitergehen. Ich war ein Mann, zwar kein kräftiger und von etwas schmächtiger Statur, jedoch musste ich noch zu anderem fähig sein, als Gärten zu neuem Glanz zu verhelfen oder Liebesbriefe zuzustellen. Der laue Sommerwind wehte durch das Fenster über Elias zitternden Körper, während mein Gehirn rotierte, was ich tun konnte.
„ Und wenn ich Mrs. Blanchett um etwas Geld bitte?“, wandte ich ein.
„ Nein, mein Sohn, wir betteln nicht“, sagte mein Vater zu mir.
Ich kannte den herrischen Ton zur Genüge, den er anschlug, wenn es darum ging, irgendwen um Hilfe zu bitten. Doch diesmal war keine Zeit, um über Stolz zu diskutieren, denn mein Bruder brauchte dringend Hilfe – und die musste ihm gewährt werden, egal, wie viele reiche Ärsche ich dafür küssen musste.
„ Ich gehe zu ihr und frage sie“, entschied ich und stand bereits an der Tür, als mein Vater mich zurückhielt.
„ Das wirst du nicht tun. Ich verbiete es dir.“
Er duldete keine Widerrede, das war mir in diesem verfluchten Augenblick aber scheißegal. Ich wusste, dass uns die alte Dame helfen würde. Wenigstens Medizin, die fiebersenkend war, wollte ich besorgen.
„ Tut mir leid, Vater, aber diesmal ist es ernst und ich werde nicht auf dich hören.“
Meine Mutter weinte leise, mischte sich aber nicht in unsere Auseinandersetzung ein. Ich wusste, dass sie mir innerlich Recht gab, dass sie hoffte, dass ich diesmal siegte, jedoch ahnte ich, wie dieser Konflikt ausging. Mein Vater war ein herzensguter Mensch, der trotz allem, trotz seiner Kämpfe um und für uns, trotz seiner Schuldgefühle und der Scham, uns nie etwas Besseres bieten zu können, einen Makel hatte: Seinen unbeirrbaren Stolz. Er war alles, was ihm geblieben war.
„Und ich werde das nicht zulassen. Gehe zu Dr. Mercer. Er soll sofort kommen.“
Damit drehte er sich um und schaute auf das nun schweißgebadete Gesicht von Elias.
„ Du willst wirklich, dass ich den Tierarzt hole?“, fragte ich entgeistert.
Er gab mir keine Antwort, während ich nach draußen ging, wo mich die strahlende Sonne empfing, doch in
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