Blutstrafe - Thriller
Sekunde änderte sich alles. Polizisten klapperten mit schussbereiten Waffen über den Asphalt, die Schaulustigen gerieten in Panik.
» Feuer einstellen!«, rief ich und warf mich gegen Miss Carol, die den Rest ihrer Familie wie Dominosteine mit sich riss. Von dort krabbelte ich auf allen vieren zu
D-Ray.
Doch weder ich noch sonst jemand konnte ihm noch helfen. Genau zwischen seinen geöffneten Augen prangte ein Einschussloch, aus dem Blut sickerte.
» Das waren nicht wir, Mike! Bleib unten!«, rief Lieutenant Steve Reno von der Sondereinheit über meinen Kopfhörer.
» Wer dann?«, rief ich zurück.
» Wir glauben, der Schuss kam aus der Menge in der Nähe des Frederick Douglass Boulevard. Wir schicken schon ein Team los.«
Ein Heckenschütze aus der Menge, kein Polizist? Meine Fresse, was war denn hier los?
» Schaff einen Krankenwagen her«, wies ich Reno über Funk an. Dann erhob ich mich. Natürlich war es durchaus möglich, dass der Heckenschütze nach weiteren Zielen Ausschau hielt, doch ich konnte angesichts des Chaos’, das um mich herum ausbrach, nicht einfach liegen bleiben.
Ich hatte das Gefühl, im Treibsand zu versinken. Die Menschen hatten gesehen, wie D-Ray zu Boden ging, und nahmen an, die Polizei hätte ihn erschossen. Entrüstet und mit vor Wut verzerrten Gesichtern drängten sie auf die Absperrungen zu. Andere Polizisten rannten ihnen entgegen und bezogen Stellung, um sie zurückzuhalten.
» Sie haben diesen Jungen getötet! Sie haben ihn umgebracht!«, schrie eine Frau.
Eine nach vorne preschende Gruppe stieß eine der Absperrungen um und schlug eine Polizistin nieder. Ihre Kollegen zogen sie in Sicherheit, während andere mit schwingenden Schlagstöcken herbeieilten. Ohrenbetäubendes Sirenengeheul durchschnitt die Luft, als zwei Einsatzwagen am Straßenrand hielten, um die Barriere zwischen uns und dem sich ausbreitenden Aufruhr zu verstärken.
Ich behielt die Szene im Auge, während ich, besorgt wegen weiterer Schüsse, auch die Dächer musterte. Schließlich bekam ich einen Schlag auf den Hinterkopf mit etwas, das sich anfühlte wie ein Baseballschläger mit Knöcheln. Ich wirbelte herum.
» Sie verlogenes Schwein, Sie haben meinen Jungen getötet!«, schrie Miss Carol. Sie verfolgte mich mit einer für ihr Alter und ihre Größe überraschenden Geschwindigkeit. Ich schnappte nach Luft, als sie mir ihre Faust gegen die Brust stieß.
» Nein, der Schuss kam nicht von uns«, krächzte ich, doch sie holte bereits zu einem Schwinger aus, der mir die Sternchen vor den Augen tanzen lassen würde. Ich konnte mich gerade noch darunter hinwegducken, wurde aber sogleich von D-Rays ausgemergeltem Onkel am Revers gepackt, der versuchte, mir eine Kopfnuss zu verpassen. Als ich mich aus seinem Griff befreite, hämmerte seine ebenso zerbrechlich wirkende Frau mit dem Krückstock auf meine Schultern ein. Ich hatte in meinem Leben schon ein paar Schläge einstecken müssen, doch diese Groteske brach alle Rekorde.
Während ich hektisch zurückwich, bemerkte ich, dass die Scheinwerfer der Fernsehkameras nicht mehr auf die Menge gerichtet waren, sondern neugierig aufzeichneten, wie ich von der geriatrischen Fraktion den Hintern versohlt bekam. Dies feuerte die Menschen noch mehr an, die beiderseits der Straße die Barrikaden einrissen und über die Einsatzwagen der Polizei kletterten. Ein paar Uniformierte eilten zu meiner Rettung herbei und drängten die Angreifer zur Seite. Joe Hunt packte meinen Arm und trat mit mir den Rückzug zu unserem Bus an.
» Ruft Verstärkung!«, rief er. » Holt die Zwei-fünf, die Zwei-sechs und die Drei-null. Also alle, und zwar gestern!«
Aus der Ferne hörte ich bereits, wie mit heulenden Sirenen die Verstärkung näher kam.
Erster Teil
Der Lehrer
1
Es ging bereits auf drei Uhr morgens zu, als ich mich endlich mit Hilfe eines Uniformierten, der mir noch einen Gefallen schuldete, aus Harlem fortschleichen konnte.
Während wir uns durch das Wirrwarr aus Übertragungswagen, Barrikaden und Polizisten in voller Montur schlängelten, hatten wir immer noch nicht den leisesten Schimmer, wer D-Ray getötet hatte.
Jede Pattsituation, die mit dem Tod eines Beteiligten endet, ist schlimm genug, doch mit dieser grotesken Erschießung wurden die schlimmsten Albträume des NYPD wahr. Egal, mit wie vielen Beweisen wir belegten, dass die Polizei keine Schuld traf, es sah einfach danach aus, als hätte einer von uns geschossen. Die Demagogen, die Verschwörungstheoretiker
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