Blutsverwandt: Kriminalroman (German Edition)
verschlissen sie waren. Alles wirkte jedoch sehr sauber und aufgeräumt.
Die Luft atmete eine unbeschreibliche Traurigkeit.
Die Detectives begannen zu suchen.
Eine solche Durchsuchung war Routine. Das Opfer hatte hier gelebt, und hier, zwischen seinen Habseligkeiten, fanden sie vielleicht einen Hinweis.
Sie sahen in jedem Winkel nach, auch im entlegensten.
Die Erfahrung lehrte, dass viele Menschen, vor allem ältere, Geld, Schmuck und Wertgegenstände zu Hause aufbewahrten, vermutlich weil sie den Banken und anderen Instituten, die Schließfächer und Wertsachen verwalteten, nicht mehr trauten oder einfach weil sie Angst hatten.
Also suchten sie im Spülkasten des WC s, im Staubsaugerbeutel, innen an den Lampenschirmen, im Kühlschrank, im Gefrierfach und unter der Matratze, dem klassischsten und ältesten Versteck der Welt. Doch sie wurden nicht fündig. Nur im Schlafzimmer, in einer alten Kommode, entdeckten sie etwas. Beim Öffnen entstieg den vier Schubladen mit aufgemaltem Blumenmuster ein modriger Geruch. Sie waren voll mit Wäsche, Strümpfen, Pullovern und Hemden, davon einige sehr verschlissen. Auch hier alles ordentlich und sauber. In der untersten Schublade fanden sie eine Blechschachtel mit Fotografien des Toten und anderer Personen, wahrscheinlich Verwandte und Freunde, ein paar vergilbte Briefe sowie einen Taschenkalender mit Namen und Adressen. Ganz unten vergraben, entdeckten sie Belege über ein Konto bei einer Bank in Manhattan. Sie nahmen alles mit.
Vom Portemonnaie des Mannes jedoch keine Spur. Was Bernardi in seiner Vermutung bestärkte, dass Bill Wells das Opfer eines Raubüberfalls geworden war, der den schlimmstmöglichen Ausgang genommen hatte: Mord.
Er klingelte an der Wohnung gegenüber.
Die Tür wurde geöffnet − bei vorgelegter Sicherheitskette.Ein alter Mann starrte Bernardi mit zornigem Blick an, der zu sagen schien: Aus welchem gottverdammten Grund klingelt um diese Zeit jemand bei mir?
Der Detective klappte ein ledernes Etui auf und zeigte ruhig seine Erkennungsmarke.
»Detective Michael Bernardi«, stellte er sich vor.
Die Augen des Mannes verweilten einen Moment auf der Marke, wanderten dann zu Bernardis Gesicht und wieder zu dem Abzeichen, das er sich in allen Einzelheiten einprägen zu wollen schien, während die Kette an Ort und Stelle blieb.
»Was ist passiert?«, fragte er verschlafen.
»Ich möchte Ihnen ein paar Fragen stellen. Darf ich hereinkommen?«
»Ein paar Fragen? Warum?«
Der Türspalt wurde nun so breit, wie es die Kette erlaubte.
»Ihr Nachbar, Mr Wells, ist gestern Abend getötet worden.«
Der Mann erbleichte. Schließlich löste er die Kette und öffnete.
»Kommen Sie herein«, sagte er mit betroffenem Gesicht und trat beiseite. »Ich heiße George Brooks.«
Seine langen weißen Haare hingen glatt um sein schmales Gesicht. Er war nur mit einer langen Wollunterhose, die auf Höhe des linken Knies ein Loch hatte, und einem T-Shirt, das knapp bis zur Taille reichte, bekleidet.
»Danke. Tut mir leid, dass ich so unangekündigt komme. Ich werde Sie nur ein paar Minuten aufhalten«, entschuldigte sich Bernardi.
Die Wohnung war eiskalt. Bernardi folgte dem Alten durch einen engen Flur. Eine weit offen stehende Tür führte ins Bad: eine altmodische Toilette mit dem Spülzugan einer Kette, ein kleines Waschbecken und aufgetürmte Schmutzwäsche in einer Ecke. Sie gingen in die kleine Küche, in der es stark nach gebratenem Fisch roch, und setzten sich an einen Tisch mit einer geblümten Wachstuchdecke voller Fettspritzer.
Der Mann erzählte, dass sein Nachbar ein freundlicher, anständiger Mensch gewesen sei, der in letzter Zeit häufig ins Leere gestarrt und feuchte Augen gehabt habe. »Er hat seine Frau verloren. Sie haben sich sehr geliebt, und danach war er ganz allein auf der Welt.«
»Ungewöhnlicher Besuch? Merkwürdige Geräusche?«, fragte Bernardi.
Der Mann schüttelte den Kopf. Tränen liefen ihm plötzlich über die Wangen, und einige Augenblicke lang sagte er nichts. Dann antwortete er: »Nein, gar nichts. Er lebte sehr zurückgezogen. Ich kann nicht glauben, dass ihn jemand umgebracht hat.«
»Nichts Auffälliges, auch nicht in den vergangenen Tagen?«, bohrte Bernardi weiter nach.
»Nein. Nur die üblichen Visagen, Gauner, Dealer … Dieses Viertel ist nicht das ruhigste. Aber das wissen Sie ja selbst.«
»Danke für Ihre Auskunft, und entschuldigen Sie nochmals die nächtliche Störung«, sagte Bernardi und stand auf. In
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