Blutsverwandte: Thriller (German Edition)
Wange, ehe er ging.
Erst als er schon mehrere Minuten aus dem Haus war, stieg sie die Treppe zu ihrem Zimmer hinauf. Alle benahmen sich so seltsam. Wohin wollte er so früh am Morgen? Und was machte ihm so zu schaffen?
Genie wartete auf sie, mit großen Augen und bleichem Gesicht. Sie wirkte verängstigt, doch zugleich hatte sie eine Miene aufgesetzt, in der Carrie auf der Stelle wilde Entschlossenheit erkannte.
»Keine Sorge«, sagte Carrie. »Ich hab keinen Ärger gekriegt. Und er weiß nicht mal, dass du auch wach bist.«
Es war, als hätte sie nichts gesagt.
»Was für ein Tier ist Squeegee?«, fragte Genie.
»Ein Löwe«, antwortete Carrie.
Genie brach in Tränen aus und reichte ihr den Vorderteil des Las Piernas News Express.
37. KAPITEL
DIENSTAG, 2. MAI, 06:25 UHR HUNTINGTON BEACH
»Was hast du vor?«, fragte Carrie.
Seit Carrie den Artikel gelesen hatte, hatten sie sich gegenseitig Fragen zugeflüstert, die sie nicht beantworten konnten, und einander x-mal versichert, dass sie immer Schwestern bleiben würden, »egal was passiert«. Leise weinend hatten sie sich in den Armen gehalten, bis sie nur noch wortlos nebeneinandersaßen. Sie hatten ein halbes Dutzend Pläne geschmiedet und wieder verworfen. Jetzt hatte Genie ihre Schwester an der Hand genommen und sie erneut nach unten geführt.
»Wir müssen sie anrufen, bevor Mom aufwacht«, flüsterte Genie.
»Wen?«
»Irene Kelly.«
Irene Kelly war die Reporterin, die den Artikel über Carrie geschrieben hatte. Oder vielmehr eine Geschichte über ein Mädchen namens Carla, deren Bild aussah wie die Babybilder, die Mom von Carrie hatte, die in Carries Augen jedoch ein anderes Mädchen zu sein schien. Das Zimmer, das dem kleinen Mädchen namens Carla gehört hatte, kam ihr allerdings bekannt vor.
Ein großer Teil der Geschichte drehte sich um Mom, die auch in der Zeitung abgebildet war, obwohl Farbe und Länge ihrer Haare sich verändert hatten, seit die Bilder gemacht worden waren. Seltsamerweise konnte sich Carrie daran erinnern, dass Mom so ausgesehen hatte, Genie jedoch nicht. In dem Artikel hieß Mom Bonnie, nicht Victoria.
Bei dem Mann namens Blake Ives war sich Carrie nicht so sicher. Im einen Moment kam er ihr vertraut vor, doch im nächsten wie ein Wildfremder.
Der Mann, mit dem Bonnie Creci Ives durchbrannte, als sie sich von Blake Ives scheiden ließ, sah bösartig aus. Reggie Faroe hieß er. Offenbar war er einer der Gründe, warum Bonnie Ives das Sorgerecht für ihre Tochter nicht bekommen hatte. Reggie Faroe war auch einer der Gründe dafür, dass Blake Ives Angst um seine Tochter hatte. Carrie konnte es ihm nicht verdenken.
»An Reggie Faroe kann ich mich überhaupt nicht erinnern«, hatte Carrie zu Genie gesagt.
»Du warst ja erst zwei, als sich deine Eltern scheiden lassen haben«, hatte Genie eingewandt. »Du warst noch zu klein. Sie hat dich erst ein Jahr später von deinem Dad weggeholt.«
So redete Genie inzwischen – als drehe sich das Ganze um Carrie statt um Carla. Als könnte man alles glauben, was in der Zeitung stand.
Doch Carrie konnte sich einfach nicht einreden, dass der Artikel von einem anderen Mädchen handelte.
Irene Kellys E-Mail-Adresse und Telefonnummer standen unter dem Artikel. Bei fast allen Geschichten aus dem Lokalteil standen E-Mail-Adressen und Telefonnummern der jeweiligen Reporter darunter, verbunden mit einer Aufforderung an die Leser:
Möchten Sie diese Geschichte kommentieren?
Bei dieser Geschichte war das Ende etwas anders. Zusätzlich zu der üblichen Kommentar-Frage hieß es, man solle Irene Kelly mailen oder sie anrufen, wenn man etwas über den Aufenthaltsort von Carla Ives oder Bonnie Creci Ives wusste.
»Ich finde nicht, dass wir sie anrufen sollten«, sagte Carrie.
»Warum denn nicht?«
»Vielleicht sollte ich einfach Mom und Dad danach fragen.«
Genie sah sie nur an. Dieser Vorschlag war nicht zum ersten Mal gefallen. Mom und Dad hatten gerade Ärger miteinander. Diese Sache anzusprechen würde sie lediglich veranlassen, ihren Ärger gegen denjenigen zu richten, der so dumm war, sie ihnen gegenüber zu erwähnen.
»Wenn Mom dir nicht die Hölle heißmacht«, sagte Genie, »dann lügt sie dich eben an. Und Dad auch. Sie lügen ja schon von Anfang an Tag für Tag über dich.«
Carrie sagte nichts.
»Macht dich das nicht wütend?«, fragte Genie.
»Doch«, gab Carrie zu. Sie war wütend. Und verwirrt. Aber sie hatte Genie bereits von diesen Gefühlen erzählt und
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