Bluttaufe: Thriller
ein. Sie wollte ihren Vater in Zürich besuchen und suchte nun schon seit Stunden ihr Wintersport-Outfit zusammen.
»Weißt du, wo die gelbe Kiste geblieben ist?«, rief sie herunter.
»Ich helfe dir suchen, einen Moment!«
»Nee, lass mal. Dann finde ich gar nichts mehr.«
Kaja hätte gern mit ihr darüber geredet, wo sie die letzte Nacht verbracht hatte. Schließlich war sie erst sechzehn. Andererseits war es unwahrscheinlich, dass sie sich dazu überhaupt äußerte.
»Meinst du nicht, wir könnten zumindest heute Abend zusammen essen? Ich mach uns Scampis und Salat.«
»Bin verabredet!«, rief ihre Tochter herunter.
Kaja stieg die Treppe hoch und drückte die angelehnte Tür auf. Leonie hatte einen Anorak, Skibrille und ein Sortiment Kosmetika auf den Boden verstreut. Sie blickte kurz auf und sagte: »Bringst du mich zum Flughafen?«
»Meinst du nicht, wir könnten mal eine Stunde miteinander reden?«
»Gibt’s was Wichtiges?«
»Leonie, du bist immerhin drei Monate im Internat gewesen!«
»Ich hab wirklich wenig Zeit, ich will mich noch mit Sarah treffen und in die Stadt muss ich auch noch. Könntest du mir vielleicht ein wenig Geld geben?«
Seit einem halben Jahr kam sie einfach nicht mehr an ihre Tochter heran. Es war, als wäre eine unsichtbare Mauer zwischen ihnen gewachsen. Es gab doch so etwas wie Mutter-Tochter-Gespräche. Reden über alte und neue Freunde, Enttäuschungen, Ärger in der Schule, Schwierigkeiten mit Lehrern, Pläne für die großen Sommerferien, vielleicht sogar unglückliche Lieben?
Leonie schloss sie von alldem aus, und Kaja hatte nicht die geringste Ahnung, warum. Sie hatte in Betracht gezogen, mit Leonies Vater zu reden. Nach vier Jahren! Doch was sollte sie ihm sagen, wie erklären, warum sie überhaupt anrief? Es gab nicht mal einen kleinen Hinweis, warum sie sich so verschloss, wofür ihre Tochter sie verantwortlich machte. Ja, es war so, als hätte sie einfach kein Interesse mit ihr zu reden, als befände sie es nicht einmal für wichtig, ihr deutlich zu machen, warum sie jede Nähe ablehnte.
Bei jedem Versuch, ihr näherzukommen oder von ihrer neuen Arbeit bei der Polizei zu berichten, hatte sie diesen Gesichtsausdruck, der weder Interesse noch Neugier und noch nicht einmal Genervtheit verriet. Es war die pure Gleichgültigkeit.
Kaja setzte sich wieder vor ihr Notebook und ging ihre Notizen durch.
Unterschieden wurde zwischen planvoll vorgehenden Serienmördern und solchen, die ihre Taten spontan begingen.
Die Morde an der Sekretärin und an dem dunkelhäutigen Mann waren genau geplant gewesen. Leichenablage, Auffindesituation, die bewusst gelegten Spuren, das alles ließ keinen Zweifel zu. Nach der Viclaseinordnung war mit hoher Wahrscheinlichkeit von einem gebildeten Mann auszugehen, der verheiratet war oder zumindest in einer festen Beziehung lebte.
Beim »Stil des Verbrechens« unterschieden sich die Tätertypen deutlich. Der intelligente, planvoll vorgehende Serienkiller versteckte die Leichen, benutzte Fesseln oder Handschellen. Als sicher galt auch, dass er die Medienberichte zur Tat genau analysierte und auf eine verquere Art ein Polizeifan war.
Kaja Winterstein hörte ein Poltern über sich, zwang sich aber, nicht aufzustehen.
Einer deutschen Untersuchung zufolge hatte die Polizei die größten Schwierigkeiten mit den weniger intelligenten Tätern. »Eine intellektuelle Falle«, hatte ihr Professor das damals genannt. Die Polizisten glaubten gerne, ihn über intelligente Ansätze ermitteln zu können, doch solch ein Täter verhielt sich nicht nach Mustern, blendete die Taten vollkommen aus, ging seinem »normalen« Leben nach. Viele dieser Täter wurden nur durch einen Zufall gefasst. Bei einem der letzten Serienmörder war es ein Wohnungsbrand, der mit seinen Taten nichts zu tun hatte.
Sie stand auf und stellte sich ans Fenster. Draußen zog ein Kanu über den Kanal. Dann ein Ausflugsschiff, von dem aus Kameras und Ferngläser auf sie gerichtet wurden. Man gewöhnte sich daran.
Die Zahl der weiblichen Serienmörder war ungefähr genauso hoch wie die der Männer, hatte sie in den Statistiken nachgelesen. Auch wenn es sich bei Frauen weniger um sexuell motivierte Taten als um Raubmorde handelte. Auch der so genannte »Mord aus Mitleid« - begangen von Pflegerinnen, Krankenschwestern und Betreuern - schlug mit einem erheblichen Prozentsatz zu Buche.
Der Täter, den sie suchten, hinterließ mit dem Samen eines längst Verstorbenen eine
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