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Blutwind

Blutwind

Titel: Blutwind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Melander
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glänzten im Gegensatz zu den trockenen, gebleichten Spitzen. Ihre Hand zitterte, als sie die Handtasche öffnete und Zigaretten und Feuerzeug herausnahm. Hinter ihr tauchte eine slowakische Polizistin auf, die Zoe Vanin ganz in den Raum schob und die Tür schloss.
    Sanne lächelte und wies mit dem Kopf auf den Stuhl an der anderen Seite des Tisches. Die Frau schlug den Blick nieder, setzte sich. Zündete das Feuerzeug an. Die Flamme zuckte, flackerte in der stillstehenden Luft. Zoe Vanin war nicht in der Lage, die Spitze der Zigarette zu treffen.
    »My name is Sanne Bissen. I ’m from the Danish police. You are Zoe Vanin, Mira’s mother?«
    Die Frau schaute die slowakische Polizistin an, die übersetzte. Zoe nickte.
    »Áno«, antwortete sie. Ihre Stimme klang wie die Angeln einer alten Tür, die nach viel zu vielen Jahren zum ersten Mal wieder geöffnet wird.
    »Yes« , übersetzte die Dolmetscherin. »Mira war ihre Tochter.« Dann brach Zoe in ein dünnes, pfeifendes Schluchzen aus. Ihre Schultern bebten. Mit Rotz vermischte Tränen tropften auf die noch immer nicht angezündete Zigarette in ihrer Hand. Die slowakische Polizistin starrte sie an, ohne eine Miene zu verziehen.
    »Mein Beileid, Miss Vanin …« Sanne beugte sich vor.
    Die Frau nickte, wischte sich die Nase mit dem Jackenärmel ab und versuchte noch einmal, die durchgeweichte Zigarette anzuzünden. Sie gab es auf und fischte eine neue aus der Schachtel. Sanne griff nach ihrem Handgelenk und hielt es, bis die Zigarette brannte.
    »Es heißt, sie sei ermordet worden. Hat sie gelitten?« Zoe schaute auf, hielt Sannes Blick fest.
    »Sie wurde erschossen. Es ging schnell.« Das Bild der nackten Leiche am Ufer. Die Fliegen, die aus den leeren Augenhöhlen aufstiegen. Sanne schüttelte den Kopf. »Ihre Augen wurden entfernt, aber wir sind der Ansicht, dass es erst nach ihrem Tod passiert ist. Nein, ich glaube nicht, dass sie gelitten hat.«
    Es gab weder einen Grund, den von Frelsén rekonstruierten wahrscheinlichen Handlungsablauf zu wiederholen, noch, aus dem Obduktionsbericht zu zitieren oder von dem Glasauge zu berichten. Was hätte es Miras Mutter genützt?
    Zoe atmete aus. Etwas von der leeren Angst in ihren Augen verschwand. Dann fing sie an zu erzählen.
    Sie war zwanzig Jahre alt gewesen, als 1989 die Gerüchte über Demonstrationen in Ostdeutschland und die Öffnung der Grenze zum Westen in der Tschechoslowakei ihren Geburtsort erreichten. Borisoglebsk, eine größere Provinzstadt zwischen Moskau und dem Kaspischen Meer. Wie so viele andere Jugendliche war sie abenteuerlustig und wollte hinaus in eine bessere Welt – in die Welt, von der alle jungen Russen träumten. Also reiste sie mit einer Freundin nach Westen, in die Tschechoslowakei. Als sie ankamen, war die Mauer zwar gefallen, aber weder Zoe noch ihrer Freundin gelang es, den verschwundenen Eisernen Vorhang zu überwinden. Stattdessen standen sie in einem fremden Land, ohne Geld und mit einer Nationalität, die die Tschechoslowaken wie die Pest hassten. Es vergingen keine zwei Wochen, bis der Hunger und die Hoffnungslosigkeit sie in die Prostitution trieben. Mira wurde geboren, noch bevor das erste Jahr vorüber war. Die Verhältnisse besserten sich ein wenig, nachdem sich die Tschechoslowakei in Tschechien und die Slowakei geteilt hatte. Jetzt waren plötzlich die Tschechen die Feinde. Aber Mira war rebellisch, auch sie träumte von einer besseren, einer anderen Welt. Und eines schönen Tages im Februar war sie losgezogen, ohne Zoe Bescheid zu geben. Sie hatte Briefe von ihr bekommen, aus Danzig in Polen, dann aus Kopenhagen. Danach nur diese große Leere.
    Sanne konzentrierte sich. Eine letzte Frage, dann würde sie Zoe in Ruhe lassen.
    »Und Sie haben von Ihrer Tochter nur dieses eine Mal gehört, nachdem sie nach Kopenhagen gekommen war?«
    Zoe antwortete nicht, sie verlor sich in den leblosen Figuren, die der Zigarettenrauch bildete.
    »Miss Vanin?«
    Zoe sah mit einem aschgrauen Blick auf, und Sanne war sicher, dass gerade etwas in ihr starb.
    »Was?«
    »Haben Sie aus Kopenhagen noch einmal etwas von Mira gehört? Nach dem ersten Mal?«
    »Sie hat einmal angerufen. Sie hatte gerade meinen Brief bekommen.« Zoe knüllte den Brief in ihrer Hand zusammen, senkte die Stimme. »Sie hatte große Angst. Sie sagte, die Männer, die über sie bestimmten …«
    »Ihre Zuhälter?«
    »Zuhälter, ja. Die hätten ein Mädchen ermordet. Mira hat gesehen, wie sie die Leiche wegtrugen.« Zoe

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