Boardwalk Empire
Skinny kannte jeden, von dem Jungen, der drüben im Lebensmittelladen das Fleisch zerteilte, bis hin zu den großen Stars aus Hollywood. Wie man das von einem Nachtklubbesitzer erwartete, war Skinny gut aussehend, elegant und charmant, aber auch ein Geschöpf der Nacht – ein kaffeetrinkender Kettenraucher, der nie vor dem Mittag aufstand und meistens im Bett frühstückte. Der 500 Club war sein Lebenswerk und bot von Sängern und Schauspielern bis zu Komödianten jede nur denkbare Form von Bühnenunterhaltung. In seiner Blütezeit konnte er sich mit den besten Klubs von Las Vegas und New York messen. Dean Martin und Jerry Lewis fingen hier an, und selbst Frank Sinatra trat regelmäßig im 500 auf. Mittlerweile war der Klub zu einer verwahrlosten Bar verkommen, in der ein paar Alteingesessene und ein paar Neugierige herumhingen, die der legendäre Ruf des 500 angelockt hatte. D’Amato konnte kaum mehr seine Angestellten, geschweige denn seine Steuern bezahlen und hatte eigentlich nur noch geöffnet, weil ihm nichts Besseres einfiel. Das traf auch auf einige seiner weiblichen Gäste zu.
Rita war die einzige Frau am Tresen, aber sie wäre auch so nicht zu übersehen gewesen. Sie hatte grellblonde Haare und an jedem Finger bis auf die Daumen einen Ring. Ihre neuen Jeans waren so eng, dass man meinen konnte, jemand hätte sie hineingegossen. Ihr Oberteil war knallgrün, und trotz des teuren BHs gaben ihre Brüste inzwischen der Schwerkraft nach. Die Jahre waren nicht spurlos an ihr vorübergegangen, da half auch keine Schminke mehr. Wer in den 500 Club kam, war meistens jung und neugierig auf die rauschenden Nächte, von denen der eigene Vater erzählt hatte. Ein paar der Jungs musterten Rita, aber sie entsprach nicht gerade ihrem Geschmack oder ihrer Vorstellung eines Mädchens für eine rauschende Nacht. Wenige Stunden später war die Bar bis auf die alten Stammgäste leer, und Rita musste sich ihre Freier draußen auf der Atlantic Avenue suchen.
1974 hatten Rita und Atlantic City etwas gemeinsam: Sie waren ausgebrannte alte Nutten auf der Suche nach Kundschaft. Aus dem prosperierenden und geschäftigen Seebad war ein verschlissenes Salzwasser-Getto geworden, das nur noch von seinem Ruf lebte. Niemand, der die Stadt kannte oder sich etwas Besseres leisten konnte, verbrachte seine Freizeit freiwillig in Atlantic City.
Jonathan Pitneys Vision hatte sich zum Albtraum entwickelt, sein Dorf am Strand ging vor die Hunde. Der einstige touristische Kern rund um den Boardwalk, das vitale Zentrum der Hotelindustrie, war jetzt ein mitleiderregender Hort des Zerfalls und der Verwahrlosung. In der Nebensaison war die Stadt tot. Es gab Tage zwischen September und Juni, da hätte man eine Bowlingkugel die Atlantic Avenue hinunterrollen lassen können, und nichts wäre ihr in die Quere gekommen. Die Straßen zum Strand erinnerten an eine gigantische Müllkippe. Da standen die schwer angeschlagenen Hoteltürme auf dem Boardwalk, dahinter die schäbigen Motelblocks am Strand, und es gab die Pacific Avenue mit ihren verlassenen Kirchen, heruntergekommenen Pensionen, Billigschnapsläden und fetttriefenden Imbissläden, die nach Einbruch der Dunkelheit schlossen. Jenseits der Atlantic Avenue verschmolzen die Gebäude zu einem Berg aus steinernem Abfall und bildeten ein riesiges Elendsviertel. Es sah beinahe aus wie in Dresden kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Was dort die Bomben angerichtet hatten, erledigte hier die Zeit. Tausende von Reihenhäusern waren reparaturbedürftig, viele davon standen leer, einige wurden von Pennern als Quartier genutzt, manche waren völlig ausgebrannt.
Ausgebrannt war auch das richtige Wort für die Mentalität der Einwohner. Nachdem die Mittelklasse aus der Stadt geflohen war, zeigte sich der Bodensatz der Stadt. Schulen und Kirchen mussten zusammengelegt oder gleich ganz geschlossen werden, und Wohltätigkeitsvereine lösten sich auf, weil ihre Mitglieder aufs Festland gezogen waren. Jugendsportclubs verloren immer mehr Mitglieder und verschwanden schließlich ganz. In den Straßen machte sich das Verbrechen breit. Familienbetriebe wie Lebensmittelläden, Boutiquen, Juweliere und Eisenwarenhandlungen wurden ständig ausgeraubt und schlossen ihre Pforten. Friseur- und Beauty-Salons blieben zu, und überall in der Stadt tauchten »Zum Verkauf« oder »Zur Miete«-Schilder auf. Selbst die Kinos waren gezwungen zu schließen, weil sich dort außer ein paar Vandalen keiner mehr blicken ließ. In den
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