Boardwalk Empire
Bürogebäuden standen ganze Etagen leer. Hoffnungslosigkeit war das bestimmende Gefühl jener Tage.
Eine gesamte Generation von Politikern war nicht in der Lage, etwas gegen den Untergang zu unternehmen. Zwischen 1950 und 1974 waren die Einnahmen durch den Tourismus von siebzig Millionen auf weniger als vierzig Millionen gesunken, Tausende von Hotelzimmern waren unbenutzbar, sodass sich die Anzahl der Gästezimmer von 20 0 000 auf weniger als 10 0 000 reduzierte. »Wer will auch in ein Hotel, in dem die Matratzen vierzig Jahre alt sind und man sich das Badezimmer mit anderen Gästen teilt?« 98
Nachdem man die alten Grand Hotels abgerissen hatte, hinterließen sie Baulücken, die aussahen wie die fehlenden Zähne in dem maroden Gebiss eines Obdachlosen. Der Boardwalk war weder eine große Promenade noch ein Schaufenster für Konsum und Kultur, sondern wurde beherrscht von Billigbauten, Ramschwarenhändlern und Taschendieben. Neun Monate des Jahres lag die Arbeitslosenquote bei 25 Prozent, ein Drittel der Einwohner lebte von Sozialhilfe. Neunzig Prozent der Gebäude waren vor 1939 erbaut worden, die meisten davon erfüllten keine modernen Baustandards. Das Federal Model Cities Program , eine Sozialmaßnahme der Lyndon-Johnson-Regierung, umfasste neun Städte in New Jersey, von denen Atlantic City mit 33,5 % den größten Anteil an Familien umfasste, die weniger als 3000 Dollar im Jahr verdienten. Im Bericht einer Wohlfahrts-Organisation wies die Stadt die höchste Scheidungsrate, die meisten Fälle von Geschlechtskrankheiten und Tuberkulose und die höchste Sterblichkeitsrate bei Neugeborenen im Bundesstaat auf. Atlantic City hatte von allen 528 mittelgroßen Städten in Amerika die höchste Verbrechensrate, wie eine Statistik des FBIs belegt. Die meisten Leute waren arm und wurden von Kriminellen ausgeraubt, die noch ärmer waren. Niemand investierte Geld in die Stadt, es hatte in den letzten dreißig Jahren keinen einzigen großen Bauauftrag mehr gegeben, und Brandstiftungen wurden immer häufiger.
Ein verzweifelter Versuch, die Wirtschaft vor dem endgültigen Zusammenbruch zu retten, war, die Stadt als Urlaubsort für Familien zu propagieren. Nach dem Motto: Die lasterhaften Zeiten sind vorüber, jetzt können Kinder und Familien nach Atlantic City kommen. Es war ein schlechter Witz. Leute wie Skinny D’Amato, die sich noch an die guten alten Zeiten erinnern konnten, dürften laut gelacht haben. Sie wussten, dass aus Atlantic City garantiert niemals ein konkurrenzfähiger Familienurlaubsort würde.
Schon 1958 hatte die Handelskammer der Frauen auf Wunsch von Hotelbetreiberin Mildred Fox einen Antrag auf Legalisierung des Glücksspiels eingereicht. Mildred Fox war eine moppelige Rothaarige mit italienischem Temperament und befand sich in ständigem Streit mit den Behörden. Sie war eine eingefleischte und politisch aktive Demokratin im Sinne Roosevelts und Kennedys, also alles andere als eine »Farleykratin«. Atlantic City war ihr Zuhause, und sie wollte hier auch nicht weg, deshalb unterbreitete sie jedem ihre Idee von der Legalisierung des Glücksspiels. »Es war die letzte Rettung für unsere Stadt. Sonst wäre es eine Geisterstadt geworden« 99 , erzählt die Mutter von vier Kindern und Besitzerin von Fox Manor , einem Hotel, das sich auf Flitterwochen-Angebote spezialisiert hatte. Zu Mildreds Zeit gab es nur noch ein paar wenige Hinterzimmer mit illegalem Glücksspiel, und für ihren Vorstoß erhielten sie und ihre Kinder Drohanrufe, deren Urheber das FBI trotz Fangschaltung nicht finden konnte. Ein halbes Jahr lang wurden Mildreds Kinder von FBI-Agenten zur Schule gebracht und wieder abgeholt.
Mitte der 60er-Jahre war das illegale Glücksspiel am Ende, und langsam begriff man, dass Atlantic City wieder einen Standortvorteil brauchte, wenn es sich als nationaler Urlaubsort neu erfinden wollte. Die einzig logische Konsequenz waren große Spielkasinos wie in Las Vegas. Wenn man mitten in der Wüste damit Profite erzielen konnte, was wäre dann erst am Meer möglich, dachte man sich.
Hap Farley, mittlerweile am Ende seiner Karriere, war strikt dagegen. Vielleicht war das der erste und einzige Fall, in dem Farley seine politischen Interessen über die seiner Stadt stellte. Vielleicht war er auch einfach zu kriegsmüde, um noch an eine Rettung für Atlantic City zu glauben. Zeitgenossen vermuten allerdings, er hätte Angst gehabt, durch die Kasinos erneut in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses zu
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