Bob, der Streuner
kurz vor Weihnachten. Seine Frau – meine Stiefmutter – war am Apparat. Zuerst wollte er gar nicht mit mir reden und ließ mich minutenlang warten. Als er sich so weit gefangen hatte, dass er den Hörer in die Hand nehmen konnte, schleuderte er mir seine ganze aufgestaute Wut entgegen: »Wo warst du denn, verdammt noch mal? Wir sind alle ganz krank vor Sorge!«, brüllte er ins Telefon. Ich versuchte ihn mit fadenscheinigen Ausreden zu beruhigen, aber er schnauzte mich weiter an.
So erfuhr ich von den verzweifelten Anrufen meiner Mutter, die von ihm wissen wollte, wo ich abgeblieben war, und damit wurde mir klar, was ich angerichtet hatte. Denn meine Mutter hatte seit der Scheidung eigentlich keinen Kontakt mehr zu meinem Vater. Fünf Minuten wütete er so weiter und knallte mir endlose Vorwürfe um die Ohren. Damals habe ich nicht einmal begriffen, dass sein Ausbruch eine Mischung aus Wut und Erleichterung war. Er hatte mich für tot gehalten, und in gewisser Weise war ich das ja auch gewesen.
Nach etwa einem Jahr auf der Straße sammelte mich eine Hilfsorganisation für Obdachlose auf. Sie schoben mich von einer Notunterkunft in die nächste. Eine davon hieß »Connections« und lag in der Nähe der St. Martin’s Lane. Als Obdachloser war ich oft an diesem Haus vorbeigegangen, wenn ich nachts auf dem Markt nebenan untergekrochen war.
Schließlich wurde mein Name auf eine Notfallliste gesetzt. Auf diese Weise sollte ich schneller an eine freie Sozialwohnung kommen. Aber bis ich tatsächlich eine bekam, dauerte es fast zehn Jahre, die ich in zahllosen heruntergekommenen Herbergen und Frühstückspensionen verbrachte, auf engstem Raum mit Heroin- und Cracksüchtigen, die alles stahlen, was nicht festgenagelt war. Irgendwann hatte ich nichts mehr außer der Kleidung, die ich am Leib trug. Daraus habe ich gelernt, meine wichtigsten Habseligkeiten nachts immer am Körper zu verstecken. Es gab nur noch einen einzigen klaren Gedanken in dieser Zeit: Überleben!
Die Verzweiflung über meine schier aussichtslose Situation zerrte mich immer tiefer in den Drogensumpf. Mit fünfundzwanzig war ich so am Ende, dass mir eine Entziehungskur aufgezwungen wurde. Nach etwa zwei Monaten wurde ich aus der Klinik entlassen und an ein ambulantes Drogenrehabilitationszentrum weitergereicht. Für eine Weile waren der tägliche Gang zur Apotheke und die Busfahrt zwei Mal im Monat zur Drogenambulanz in Camden mein Lebensinhalt. Ich funktionierte wie auf Knopfdruck, stand morgens auf und erledigte meine Termine wie ein ferngesteuerter Roboter. Die Tage verstrichen wie in Trance; ich stand weiterhin komplett neben mir.
In der Drogenambulanz wurde ich psychotherapeutisch betreut. Endlos redete ich über meine Sucht. Wie alles angefangen hatte – und wie ich endlich davon loskommen würde.
Gründe und Ausreden für Drogensucht gibt es viele, aber ich weiß genau, was mich da hineingezogen hat. Es war die verdammte Einsamkeit. Heroin betäubt das hässliche Gefühl von Isolation. Es ließ mich vergessen, dass ich in diesem Land weder Familie noch Freunde hatte. Ich fühlte mich so allein. Auch wenn das für andere seltsam und unglaubwürdig klingen mag, aber das Heroin war mein einziger Freund.
Allerdings war mir auch bewusst, dass es mich umbringen würde. Deshalb habe ich mich letztendlich auf die Langzeittherapie mit Methadon eingelassen. Es ist die Ersatzdroge, die Morphium- und Heroin-Abhängigen den Entzug ermöglicht. Nach meinem Therapieplan sollte ich bis 2007 auch so weit sein, dass ich das Methadon absetzen könnte.
Ein wichtiger Schritt in die neue Unabhängigkeit war der Einzug in meine erste eigene Wohnung. Sie lag in einem unauffälligen Mietshaus in Tottenham, in dem ganz normale Singles und Familien wohnten. Ich war sicher, hier würde ich es endlich schaffen, mein Leben in dem Griff zu bekommen.
Ich wollte unbedingt einen Teil meines Lebensunterhaltes selbst aufbringen und fing an, in Covent Garden Straßenmusik zu machen. Viel brachte das zwar nicht ein, aber es reichte für meinen Bedarf an Lebensmitteln sowie für Gas und Strom. Vor allem aber war es eine tägliche Aufgabe für mich, die es zu bewältigen galt. Mein selbst geschaffener Job half mir, auf dem rechten Weg zu bleiben.
Es war meine letzte Chance, die Kurve zu kriegen. Diesmal musste es klappen. Wäre ich eine Katze gewesen, dann hätte ich bereits acht Leben verbraucht.
3
Die Kastration
D ie Medikamente wirkten Wunder, und Bob blühte förmlich
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