Bob, der Streuner
nichts. Wegen so einer Lappalie hatte ich vollkommen panisch reagiert und mich – typisch für mich! – heillos in einen Irrgarten voller selbst erdachter Horrorszenarien verstrickt. Ich hatte nichts kapiert, war fast verrückt geworden vor Existenzangst und konnte nicht mehr klar denken. All diese Bilder, wie man mich vor ein Gremium von Managern zerrte, mir den Ausweis abnahm und mich zurück auf die Straße warf – nichts als Hirngespinste. Es wäre mir nie in den Sinn gekommen, dass man mir Glauben schenken und mich mit einer Verwarnung weitermachen lassen würde.
Ich fuhr sofort zurück nach Covent Garden und zu Sams Verkaufsstelle. Die Angelegenheit war mir total peinlich.
Sam lächelte, als sie mich mit Bob kommen sah.
»Ich habe mich schon gefragt, ob ich euch beide wiedersehe«, begrüßte sie uns. »Warst du endlich im Büro, um die Sache zu klären?«
Ich nickte und überreichte ihr das Schreiben, das man mir im Büro für sie mitgegeben hatte.
»Aha, sie haben dir eine weitere Probezeit auferlegt«, teilte sie mir mit, während sie den Text überflog. »Du darfst in den nächsten vierzehn Tagen wochentags erst ab 16.30 Uhr und sonntags den ganzen Tag arbeiten. Danach bekommst du deine normale Schicht zurück. Aber sauber bleiben!«, warnte sie mit erhobenem Zeigefinger. »Wenn du mit Bob unterwegs bist und jemand eine Zeitschrift von dir kaufen will, sagst du, dass du keine mehr hast. Wenn du welche im Arm hast, erklärst du, dass alle schon für Stammkunden reserviert sind. Lass dich auf nichts ein!«
Das war ein guter Rat. Ich hatte allerdings die Befürchtung, dass andere Leute ein Problem mit dem »Sauberbleiben« haben könnten. Leider sollte ich damit recht behalten.
Meine zweite Probezeit war noch nicht zu Ende, als Bob und ich an einem Sonntagnachmittag in Covent Garden auf unserem Platz Zeitschriften verkauften. Wir nutzten jede Minute unserer reduzierten Verkaufszeit und saßen ganz in der Nähe des Verteilerstandes auf der James Street. Plötzlich bemerkte ich, dass wir beobachtet wurden. Es war ein Kollege namens Stan, dessen grimmige Miene nichts Gutes ahnen ließ.
Jeder Big-Issue -Verkäufer kannte Stan, er war schon lange dabei. Das Problem mit ihm war, dass man nie wusste, woran man mit ihm war. Wenn er gute Laune hatte, war er einer der nettesten Kollegen, hilfsbereit und sehr zuvorkommend. Als ich einmal kein Geld mehr gehabt hatte, um neue Ware einzukaufen, hatte er mir ein paar von seinen Zeitschriften zum Verkaufen geschenkt.
War er aber schlecht gelaunt oder gar betrunken, dann hatte man die unangenehmste, streitsüchtigste und aggressivste Nervensäge vor sich, die man sich nur vorstellen kann.
In diesem Moment war er die Nervensäge.
Stan war ein Riese, bestimmt 1,95 groß. Er beugte sich über mich und bellte mit schwerer Zunge: »Du darfst gar nicht hier sein. Du bist doch gesperrt!«
Sein Atem roch wie eine Schnapsfabrik.
Normalerweise lasse ich mich auf keine Diskussionen mit einem Betrunkenen ein, aber ich konnte ja nicht einfach weggehen. Ich musste meine Big Issues loswerden. Also Augen zu und durch!
»Nein, Stan, laut Sam darf ich sonntags den ganzen Tag und unter der Woche ab 16.30 Uhr hier arbeiten.«
Zum Glück war ein Kollege von Sam am Verteilerstand, der meine Aussage bestätigte. Stan passte das gar nicht. Er taumelte erst mal rückwärts und kam wieder näher. Mit gehässiger Miene beugte er sich über mich. Sein Atem war Whisky pur. Dann blieb sein von Alkohol verschleierter Blick an Bob hängen. »Wenn’s nach mir ginge, würde ich deine Katze einfach abmurksen«, quetschte er leise zwischen den Zähnen hervor.
Das hat gesessen!
Wenn er versucht hätte, Bob anzufassen, wäre ich auf ihn losgegangen. Wie eine Mutter ihr Kind hätte ich meinen Kater verteidigt. Bob war mein Baby. Für meinen Job wäre das allerdings das Ende gewesen.
Deshalb traf ich auf der Stelle zwei Entscheidungen. Zum einen schnappte ich mir Bob und suchte mir für den Rest des Tages einen anderen Verkaufsplatz. Ich würde keine Sekunde länger in Stans Dunstkreis arbeiten, solange er in diesem Zustand war. Zum anderen würde ich in Zukunft Covent Garden komplett meiden.
Geschäftlich gesehen war das zwar fatal, denn Bob und ich hatten hier einen treuen Kundenstamm, und die lebhafte Atmosphäre dieses Viertels würde uns bestimmt fehlen.
Aber ich musste mir eingestehen, dass wir in Covent Garden nicht mehr sicher waren. Es gab Neider, die offensichtlich vor nichts
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