Bodin Lacht
sich in der Nähe des Unglücksorts aufhielt, oder vielmehr des Tatorts, und sich damit verdächtig machen könnte, und du solltest aufhören zu trinken, Mama, du bist betrunken, und es ist, es ist ⦠Er kämpfte jetzt selbst gegen die Tränen. Und warum solltest du das arme Mädchen umgebracht haben, Martin? Sie war deine geliebte Klavierlehrerin und ich kann bezeugen, dass du nicht in der Lage bist oder warst und jemals sein wirst, eine Flinte oder ein Messer zu bedienen, dass du in dieser Hinsicht völlig vom Schicksal gezeichnet bist. Er hob ärgerlich die Schulter: Du wirst mich damit groÃartig entlasten, Mama.
Sie beruhigte sich. Er lieà seine Jacke fallen. Sie löffelten schweigend ihre Suppe. Paula hatte vergessen, die gehackte Petersilie für den Farbkontrast daraufzustreuen, auch der Kaviar zum Lachsbrot fehlte. Sie sah müde aus. Zwei Falten bohrten sich einen Weg auf ihrer Stirn. Sie hielt ab und zu inne und sah so aus, als wollte sie ihm etwas sagen, schwieg aber weiter. Als ihr Teller leer war, legte sie ihre Hand auf seine und schaute ihm in die Augen. Ihr Blick war wieder hell, voll von einer Liebe, die ihn wie ein Laser von jedem Unkraut reinigte. Vielleicht galt diese Liebe nur Evelyn. Tu es, mein Kind, geh zur Polizei. Sag, dass du einen Schuss gehört hast. Wie neutral und schön das Wort Kind ist. Ein Kind, ein noch nicht ganz bestimmtes Wesen. Sie begleitete ihn bis zur Tür und gab ihm einen Kuss: Denk auch morgen an deinen Termin bei Herrn Doktor Bodin.
Er fuhr mit dem Fahrrad in die Stadt zurück. Die LandstraÃe war leer, nur selten blendete ihn ein Wagen mit seinem Fernlicht. Die Luft roch gut nach nasser Erde und nassem Teer. In der Kühle einer Herbstnacht wusste er viel von seiner Vergänglichkeit, er spürte besonders seine Zugehörigkeit zu den Nebelstreifen, zum Nieselregen, zu den schwarzen Feldern, die er im Lichtkegel seines Scheinwerfers erriet. Er atmete tief ein, genoss die Frische und die Nässe und versuchte, Ruhe aus allen Quellen der Nacht zu schöpfen. An diesem Abend aber gelang ihm das kaum. Der Mord an Evelyn machte aus der Welt einen tückischen, vergifteten Ort. Er hörte das Geräusch des Dynamos, der an dem Reifen rieb, stieg in die Pedale und sah nur auf den begrenzt erleuchteten Asphalt. Er lieà endlich seine Tränen flieÃen. Evelyns Hand lag auf seiner und dirigierte seine Finger über die Tasten, die linken Strähnen ihrer Locken streiften seine Schulter.
Zu Hause machte er seinen Kleiderschrank auf und holte ein Kleid heraus, auch wenn es zu dünn für diesen Herbstabend war, eines der zwei Kleider, die sie ihm am Ende des Sommers geschenkt hatte, ungewaschen, sie rochen noch ein bisschen nach ihr, wollte er sich einbilden, vielleicht trugen sie weiterhin Spuren ihres Körpers, ein paar Zellen ihrer Haut am Hals, ihres SchweiÃes unter den Achseln, wer weiÃ, er zog das Blumenkleid an, nahm den Gummi aus seinem Haar, der es sonst zu einem fast männlichen Pferdeschwanz zusammenhielt. Martina war stolz auf ihre Haarpracht, die ihr lang und schwarz auf den Rücken fiel. Fühlte sich auf einmal lebendiger und geschützter. Sie zog einen gepolsterten BH Cup B an, zwang ihre FüÃe in blaue Pumps, die zu dem Kleid passten. Schminken, Pudern, zeichnete mit dem Lippenstift die Konturen ihrer Lippen sorgfältig, fühlte sich noch näher bei Evelyn. Sie brach wieder in Tränen aus und musste ihr Augen-Make-up auffrischen. Sie fuhr mit der U-Bahn, lief ein Stück, betrat irgendwann einen neuen Nachtclub, jemand spielte da Klavier. Jazz. Paare auf Plastiksofas waren mit sich selbst beschäftigt. Niemand auÃer der Kellnerin sprach sie an, sie knabberte allein an der kandierten Zitronenscheibe ihres Cocktails. Als ein Mann zu ihrem Tisch kam, schickte sie ihn weg.
FELD 7: BODINS PRALINEN
PreÃt der Zitrone
Saftigen Stern!
Herb ist des Lebens
Innerster Kern
Jetzt mit des Zuckers
Linderndem Saft
Zähmet die herbe
Brennende Kraft!
F RIEDRICH S CHILLER,
Das Punschlied, 2. und 3. Strophe
Martin hatte den Wecker gestellt, um als Erstes zur Polizei zu gehen und eine freiwillige Zeugenaussage zu machen. Er hörte zwar um sieben das Rasseln im Hintergrund, die Erschöpfung nagelte ihn aber ans Bett, und er fiel lahmgelegt in einen schwarz gepolsterten Raum, war eine Spinne, die sich mit ihren vielen Beinen an die Wände krallte und um ihr Leben
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