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Bodin Lacht

Bodin Lacht

Titel: Bodin Lacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sylvie Schenk
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kämpfte. Die Trauer um Evelyn lag auf der Lauer. Er versank immer tiefer, bis er, ein Insekt im Bernstein, in einem Niemandsland erstarrte. Eine riesige Zange holte ihn aber heraus und ließ ihn ins grelle Licht fallen.
    Die Sonne war ins Zimmer eingedrungen und beschämte ihn wegen seiner Faulheit. Es war zehn Uhr, und er hatte eine Stunde später einen Termin bei Herrn Professor Doktor Bodin, der kein Franzose war, sondern ein Ruhrgebietler, der mütterlicherseits von Hugenotten abstammte und sechs Jahre lang der Geliebte seiner Mutter gewesen war. Nur dank der sechsjährigen Liebschaft mit seiner Mutter würde Professor Doktor Bodin ihn bei einer Therapie begleiten. Der Freudianer betreute zwar noch zwei oder drei langjährige Patienten, nahm aber keine neuen an, da er sie im Angesicht seines Alters, behauptete er, nicht mehr lange genug würde betreuen können. Er war allerdings nur knapp über sechzig Jahre alt und gesund. Martin fragte ihn sofort, ob er von dem Mord an Evelyn Gorda gehört hätte. Ja, sagte Bodin, ja, schrecklich, aber du bist aus einem anderen Grund da, und wir bleiben beim Thema. Es geht doch, wenn ich deine Mutter verstanden habe, um deine Schwierigkeiten, mit deinem ambivalenten Geschlecht zurechtzukommen oder eine Entscheidung zu treffen. Martin erklärte ihm, was Bodin schon wusste: dass er sich dem unbestimmten Geschlecht, das ein schlampiger Gott ihm beschert hatte, nicht ganz verbunden fühle, dass dieses Problem aber vor allem seine Mutter verstöre. In der letzten Zeit sei es bei ihr zur Obsession geworden. Sie brauche selbst dringend eine Therapie. Ich weiß, sagte Bodin, sie trinkt zu viel. Erzähle weiter von dir.
    Er selbst, sagte Martin, sei zwar unsicher, ob er eine endgültige Operation zur Geschlechtsumwandlung riskieren wolle, er habe von Opfern gehört, die nach einem misslungenen Eingriff für immer hinkten oder ewige Schmerzen litten. Aber nicht allein die physischen Unannehmlichkeiten, die einem endgültigen Geschlechtswechsel – das hieße Festlegung auf das weibliche Geschlecht – folgen könnten, seien für ihn entscheidend, nein, er fühle sich nicht mehr wirklich unwohl in einer Art Zwischenwelt und vielleicht genieße er sogar die Doppeldeutigkeit seiner Lage. Tagsüber, bei der Arbeit, beim Sport, ein sozusagen normaler, wenn auch etwas femininer Mann zu sein und abends das Cross-Dressing zu erleben, sei für ihn ein befriedigendes und befreiendes Abenteuer. Unter seinen Freunden und Kommilitonen sei er zwar als Zwitter die Ausnahme, aber eine Ausnahme zu sein, habe nicht nur schlechte Seiten.
    Haha, hüstelte der Onkel Doktor, du fühlst dich manchmal als Auserwählter.
    Bodin hatte schon immer das Talent besessen, einem die Worte im Mund zu verdrehen.
    Es könnte sein, fuhr Martin fort, dass seine Persönlichkeit sich anders entwickle, dass die Damenkleider und die Besuche in bestimmten Clubs ihm nicht mehr genügten, dass der Junge das Mädchen in ihm auffresse oder das Mädchen den Jungen, zur Zeit aber würden die zwei Menschen in ihm siamesisch und fast friedlich leben.
    Du bist also, unterbrach wieder Bodin, in der Verrücktheit der Gesellschaft und dem globalen Wahnsinn der Welt ein Beispiel von Ausgeglichenheit.
    Auch diese Übertreibung ignorierte Martin: Eins habe er gelernt, rezitierte er mit einem liebenswerten, für sein Alter sehr reifen Lächeln: Nicht die Situation, die die Natur einem auferlegt hat, mache unglücklich, sondern das Nicht-Akzeptieren dieser Natur, so verkorkst sie auch sei. Das Unglück komme allein vom Blickwinkel und von dem Zwang, sich unbedingt entscheiden zu müssen, einem Zwang, der von außen auferlegt werde, in seinem Fall von seiner Mutter.
    Ja, lachte Bodin, deine Mutter will dein Leben glätten, weil es sich nur in einem glatten See gut widerspiegeln lässt.
    Eben, mein Schicksal aber liegt höchstwahrscheinlich in dem Nicht-Entscheidungs-Zustand, in dem Alles-mitnehmen-Wollen.
    Wer den Engel spielt, fällt auf den Rüssel, grunzte Bodin. Martin verstand nicht gleich und fuhr fort: Die meisten Leute, die mich kennen, nehmen mich so wie ich bin. Früher haben mich perfide Andeutungen von Kommilitonen oder Professoren, die in mir den Zwitter witterten, verletzt, ich leide jetzt kaum noch darunter, falls es passiert, und es passiert äußerst selten. Meine Seele ist nach vielen Übungen der

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