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Bodin Lacht

Bodin Lacht

Titel: Bodin Lacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sylvie Schenk
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Selbstbeherrschung durchaus in der Lage, gegen niveaulose Attacken ein Gegengift zu produzieren.
    Klasse, sagte Bodin, und: Vortrag beendet?
    Zugegeben, Martins Rede war sorgfältig vorbereitet worden. Es mochte künstlich klingen und doch: Je weiter er sprach, desto mehr glaubte er ehrlich, was er behauptete. Besser gesagt: Er beschrieb den Zustand, den er erreichen wollte. Bodin hob belustigt die Brauen. Das wild auf die Stirn fallende Haar und die schmutzigen Stoppel seiner schlecht rasierten Wangen verliehen ihm eine Wildheit, die er sicherlich nicht besaß. Er räusperte sich. Hm. Hm. Alles in Butter, aber, Junge, warum kommst du überhaupt zu mir, wenn du dich so glücklich wähnst? Nur um deiner Mutter einen Gefallen zu tun? Dann hast du in der Tat eine Therapie dringend nötig. Nein, Herr Doktor Bodin, sagte Martin zu dem, den er lange Zeit Onkel Jürgen genannt hatte, ich komme nicht meiner Mutter zuliebe, aber wohl, um des lieben Friedens willen. Ich wähle bei ihr immer den Weg des geringsten Widerstands und spare damit Energie für wichtigere Dinge. Außerdem habe ich Sie gut in Erinnerung. Als Sie mit meiner Mutter regelmäßig vögelten, haben Sie auch mit mir ein bisschen Zeit verbracht, und das fand ich nicht übel. Wir können gern über mein Problem reden.
    Schön, schön, so viel Reife und Klugheit! Herr Doktor Bodin nickte: Ob Martin eine Praline wolle? Er solle sich nur bedienen. Schokolade habe immer die Beichte der Patienten erleichtert. Danach kriegen sie eine zweite zur Belohnung und zum Trost. Erzähle mir trotzdem, seit wann du dieses weibliche Alter Ego in dir spürst, oder seit wann du es bewusst erlebst.
    Seit dem Tag in der Grundschule, sagte Martin, während sich Bodin eine Praline nach der anderen in den Mund schob. Als der Lehrer die Jungen wegen ihrer Sauklaue beschimpfte und mich als die Ausnahme lobte, mich, der ich so schön schrieb wie die Mädchen. Es war nicht klug von ihm, da sein Lob mir natürlich viel Häme meiner Mitschüler einbrachte. Und natürlich kurz danach im Schwimmbad, ich schielte erstaunt zu den Schwänzchen der anderen, alle viel entwickelter als meins, und hatte Glück, dass die nicht dasselbe bei mir machten. Ich schlüpfte sekundenschnell in die Badehose und sprang als Erster ins Wasser, hätte seitdem jeden im An- und Ausziehen geschlagen, hätte es einen Wettbewerb in diesem Fach gegeben. Das Wasser ist mein rettendes Element. Martin hielt eine Sekunde inne und sagte: Evelyn Gorda ist am Blausee umgebracht worden.

FELD 8: EIN DUTT IM TEICH
    Deswegen wirkt auch das Weiß auf unsere Psyche als ein großes Schweigen (…), welches nicht tot ist, sondern voll Möglichkeiten. Das Weiß klingt wie Schweigen, welches plötzlich verstanden werden kann.
    W ASSILY K ANDINSKY,
Über das Geistige in der Kunst
    Paula neigte sich zum Teich, um Otta besser zu sehen. Im Teich spiegelte sich auch eine kleine Wolke. Ein weiß-grauer Dutt über Paulas bebendem Gesicht. Der Gans Otta schien es hier zu gefallen. Ich will, sagte Paula, einen weißen Tag verbringen. Ein weißer Tag ist ein Tag, an dem man nur mit einer Gans spricht und Erinnerungen sortiert werden. Man hat sich mit der Einsamkeit verabredet, die trägt eine graue Mönchskutte. Ich will mich nur an Evelyn erinnern, die viel zu jung war, um zu einer meiner Erinnerungen zu werden. Alle anderen Gedanken wären jetzt nicht angebracht. Evelyn.
    Der Dutt im Teich war kein Haarknoten mehr, es waren feine Strähnen, die zerfranst von Otta durchschwommen wurden.
    Sie ging zu ihrem Schreibtisch, klappte den »Roman meines Lebens« auf und schrieb mit violetter Tinte: Evelyn hat mich gestern Nachmittag besucht und ich habe sie gebeten, zum Abendessen zu bleiben, da ich mir schon dachte, dass Martin vorbeikommen würde. Er hält es zwei Tage ohne mich nicht aus, das macht mir Sorge, es macht mir auch Sorge, wenn er nicht kommt, Nähe oder Distanz und wie viel davon, that is the question. Evelyn hat gestern zum ersten Mal sehr persönlich mit mir gesprochen. Von sich. Intim. Mit mir. Sie empfand das Bedürfnis, mit jemandem zu sprechen, sie sagte, Sie sind alt genug, Paula, um mich nicht zu verurteilen, Paula, ich kann nur mit älteren Menschen umgehen. Mit älteren Menschen umgehen! Der Ausdruck schockierte mich sehr, sie missbrauchte mich als Beichtoma. Andererseits war ich auch geschmeichelt: Wenn man nur

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