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Bodin Lacht

Bodin Lacht

Titel: Bodin Lacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sylvie Schenk
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blühende Wildnis gegen eine Terrasse mit gezüchteten Topfpflanzen, also hatte er wie jedermann seine Einzigartigkeit eingebüßt, und er schaute sie an, ahnte gleichzeitig, er könnte aus dieser Person wieder Kraft schöpfen, ein Liebeskeim könnte ganz schüchtern unter seiner Brust wachsen, ein Quäntchen Hoffnung aufblühen, alles haben sie mir geraubt, sagte sie, seitdem lebe ich in einem Vakuum, ich taste mich blindlings von Tag zu Tag, suche nach Halt … Ich habe den Eindruck, ich stinke. Sie stank nicht. Wenn sie schwitzte, roch sie nach Gewürzen, Safran vielleicht, Paprika. Ein Geruch, der ihr gut stand. Oberhalb der Lippen glänzte ein Schweißtropfen. Und außerdem verliere ich auch alle meine Sachen, meine Schüssel, mein Geld, viele Dinge. Wie oft hatte er das schon gehört? Bei ihr klang es anders. Echter. Er sah sie als einen schwarzen Strich, der orientierungslos im Raum nach bunten Gegenständen suchte, blinde Kuh spielte, alle Mitspieler hatten sich entfernt. Ich habe alles verloren, sagte sie, nichts mehr kann unschuldig sein, kein Mensch, kein Haus, kein Wald, kein Baum. Ich sehe das Böse sogar bei Kindern, besonders bei Kindern, auch bei alten Leuten, bei dem Besitzer des Krämerladens an der Ecke. Überall auf der Straße. Ich kann mich nicht mehr frei bewegen, in einen Bus einsteigen. Der Busfahrer schaut mich eigenartig an. Alle schauen mich eigenartig an. Endlich begann sie zu sprechen, und Bodin hoffte, dass er sie heilen könnte, sie erzählte genauer von der Gewalt, die drei besoffene Kerle, so alt wie sie, ihr angetan hatten. Sie erzählte zuerst zaghaft, unterbrach immer wieder ihre Erzählung, beschrieb ihre aktuelle Gemütslage, was ihr immer wieder passierte, ihre Unfähigkeit, sich zu konzentrieren, ihre Albträume. Er wartete geduldig, dann immer weniger geduldig, aber er wartete, er wollte, dass sie jede Einzelheit erzählte, nur so, sagte er, war Befreiung in Sicht. Jede Einzelheit. Aber es half nicht. Bei jeder Sitzung berichtete sie mit weit geöffneten Augen immer genauer von den Händen und Knien, die ihre Schenkel auseinanderspreizten, von dem alkoholisierten Atem der Jungen, von dem schmutzigen Lachen, von dem Eindringen, von ihren erstickten Schreien. Bodin erlebte alles mit ihr wieder, aber es half nicht, und als sie aufstand und ging, brauchte er selbst frische Luft, war benommen, außer sich. Christines Erzählen war nutzlos, im Gegenteil, je ausführlicher sie die Vergewaltigung beschrieb, desto schlimmer wurde ihre Todessehnsucht, der Sinn des Lebens war ihr geraubt, bevor sie überhaupt Zeit gehabt hätte, wie alle jungen Leute danach zu suchen. Die Eins in Deutsch, Latein und Mathe, sagte sie, wurde drei Mal gefickt. Sie müssen weg, sagte er, weit weg von dieser Stadt.

FELD 31: ANGST
    Etymologie: Das deutsche Wort »Angst« entsteht aus dem indogermanischen »angh« (eng) mit dem Suffix »st« (dazugehörig), heißt also: »das, was zur Enge gehört«. (…) Fritz Perls bringt »Angst« auf die kurze Formel: »Angst ist Erregung minus Sauerstoff«. Über diese physiologische Ursache hinaus geht seine kognitive Begründung: »Angst ist die Spannung zwischen dem Jetzt und dem Später.«
    S TEFAN B LANKERTZ, E RHARD D OUBRAWA,
Lexikon der Gestalttherapie
    Er hatte sie sofort erkannt und sie ihn, den Typen von damals mit der grobporigen Haut, dem Äthergeruch. Als er, sein Glas in der Hand (ein blauer Cocktail, der, wie sie meinte, nicht zu seinem Typ passte), sich ihrem Tisch näherte, ein paar Schritte nur, witterte sie sofort die Gefahr. Was war los? Diese Angst (dachtest du nicht, du fürchtest dich nicht vor Männern?) verdichtete sich bei jedem seiner Schritte, vier, fünf Schritte, die Angst war eine dicke Rußwolke, sie trübte Martina die Sicht, und als der Mann seine Hände auf den Tisch stützte – genau wie damals – und »eh, Süße« sagte, war die Erinnerung eine schallende Ohrfeige: Sie sah wieder, wie ihre Hand in die Tasche tauchte und blindlings eine Karte herauszog. Das war nicht ihre Karte, sie hatte nie eine Karte gehabt, schon gar nicht als Martina Vanderbeke. Was sie dem Typen gereicht hatte, um ihr Spielchen weiterzuspielen, war Evelyn Gordas Visitenkarte, die mit Taschentüchern und Halsbonbons in der Handtasche lag, eine kleine, süße Handtasche aus Kunststoff, die ihr Evelyn

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