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Bodin Lacht

Bodin Lacht

Titel: Bodin Lacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sylvie Schenk
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führt.

FELD 29: SACKGASSE
    Er folgte einer fixen Idee und wunderte sich, dass er nicht vorankam.
    J ACQUES P RÉVERT
    Liliane Hoffmann atmete in Andreas’ Gegenwart nach wie vor eine verbrauchte Luft ein, der Raum wirkte ergraut, die Dinge plüschig, ihre Beine schwer, ihre Zunge gelähmt. Sie hätte heute die Ruhe des Büros ohne den Kollegen, der in Evelyns Eifeldorf gefahren war, genießen können. Böse Geister aber hüpften in ihren Gedanken. Sie hatte die Fotos von Evelyns Leiche im Schilf auf ihrem Schreibtisch ausgebreitet, sah aber die Szene mit geschlossenen Augen besser. Ein Mann wirft sie auf den Boden, sie schreit und er presst seinen Mund gegen den ihren, er will ihr den Mund zustopfen, lässt ein Präservativ über seinen Schwanz gleiten, er droht, sie umzubringen, wenn sie die Klappe nicht hält, sabbert: Komm, du willst es doch, sie beißt sich auf die Lippen, presst die Kiefer zusammen, lässt nur ihre Tränen fließen, sie kann kaum atmen, weil ihre Nase blutet und verstopft ist, und er hält ihr mit der Hand den Mund zu, sie stöhnt nur noch, röchelt, erstickt, spürt, dass sie bald sterben wird. Als er ejakuliert, lockert er die Umarmung, sie schafft es, aufzustehen, loszurennen, hockt im Schilf, verdeckt, er holt sie ein, watet zu ihr, drückt ihr den Kehlkopf ein, taucht ihr den Kopf ins Wasser. Sie ertrinkt, sie stirbt, der See verwischt die Spuren, Speichel, Haare oder Schuppen, Sperma. Liliane erstickt, öffnet das Fenster. Will nicht mehr sehen, was sie sieht.
    Sie steckten in einer Sackgasse. Akten stapelten sich und versperrten den Horizont. Die Suche nach Evelyns Agenten hatte nichts ergeben. Es war unmöglich, dass in der Musikwelt dieser Stadt kein Kollege außer Tobias Wildenhain und nicht einmal Alina Garetta, mit der sie zusammenwohnte, von dem Agenten gewusst hätte. Jeder in diesem Milieu betrachtete neidisch die Erfolge der anderen und die Entwicklung seiner Karriere. Auch in Evelyns Computer konnte man keine Korrespondenz mit einem Agenten entdecken. Tobias und Alina waren gebeten worden, sich Fotos von Triebtätern anzusehen und hatten niemanden erkannt. Frau Vanderbeke hatte – ein Glas in der Hand – vage ein unglückliches Liebesabenteuer Evelyns erwähnt, ein Rendezvous am See. Andreas ging immer mehr davon aus, dass dieser Jemand Martin war, den seine Mutter schützte, andererseits – so Liliane – warum hätte eine ihren Sohn schützende Frau Vanderbeke offen zugegeben, dass Evelyn sie besucht hatte? Weil jemand hätte sehen können, dass Evelyn die Vanderbekes besuchte, erwiderte Andreas.
    Martin war viel später am See, sagte Liliane, und, angenommen er wäre früher da gewesen, hätte er keine Schreie hören können, der Ort, wo er die verletzte Gans gefunden haben will, war immerhin fünfzehn Minuten entfernt vom Tatort und in einer anderen Bucht, die für Martin nicht einzusehen war.
    Sie wolle nur »die schwule Sau« entlasten, sagte Andreas, als ob man ihm glauben könnte! Liliane starrte blasiert ihren Kollegen an: Wie hatte sie sich mit einem solchen Arschloch einlassen können? Eine Nacht nur, aber eine Nacht zu viel. Das Schlimmste war, sich niemandem anvertrauen zu können. Evelyn hatte wenigstens versucht, sich Frau Vanderbeke zu offenbaren, aber vergeblich. Sie wollte Unerträgliches mitteilen, was man nur einer mütterlichen Person anvertrauen konnte, nicht jemandem, den man täglich traf, nicht einer Freundin, die sich hätte abwenden können oder das Geheimnis einer anderen besten Freundin weitergeplappert hätte, es ging um etwas, das ihr Leben vergiftete. Etwas, das sie beschämte.
    Jeder erzählte, Evelyn sei ein Engel gewesen, eine begnadete Musikerin. Geflügelte Worte: eine begnadete Musikerin, ein Engel, eine Lichtgestalt. Wer will schon einen Engel umbringen? Und: Was ist ein Engel? Ein unschuldiges Wesen? Dann ist jedes Tier ein Himmelsbote, es sei denn, die Schuld steckte per se im Hunger. Eine gütige und schöne Person, sprich die Widerspiegelung des Guten in Gesicht und Körper? Jemand, der kindlich ist und rein, sprich ohne sexuelle Erfahrungen und ohne schlechte Gedanken? Eine Idiotin, der Welt entzogen, ganz der geistigen Welt gewidmet? Jemand mit Flügeln oder jemand, der einen beflügelt? Evelyn hatte eine Ausstrahlung besessen, die die Welt heller machte. Derjenige, der dieses Licht

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