Bodin Lacht
und verschwinde.
Seine Mutter hatte ihn nie mit Samthandschuhen angefasst. Bodin?, grinste er, sag bloÃ, Bodin ist wieder da? Hast du ihm von meinem Verdacht erzählt? Sie stieà ein dünnes Lachen aus: Nein, Bodin gehört dir allein, lieber Sohn. Ich gebe mich mit Alten und Vergangenem nicht mehr ab. Okay, lachte er schief, ich bin schon weg, dann viel Spaà mit der Jugend! Er lieà die Croissants auf dem Tisch liegen und seine Mutter sitzen, pustete ihr ein Küsschen von der Hand und ging, bemüht um eine coole Haltung. Mutter Teresa ist tot, rief sie ihm noch hinterher. Ich habe sie in einer Plastiktüte ins Kühlfach gelegt. Kannst du dir nächstes Mal angucken. Er hatte schon den Griff der Eingangstür in der Hand, als er jemanden die Treppen herunterjagen hörte und, statt seine Neugier zu zügeln und diskret abzuhauen, wartete er eine Viertelsekunde zu lang und schaute, wer da mit diesem Schwung die Treppen herunterstürzte. Ein Siebzigjähriger bestimmt nicht. Er musste dumm ausgesehen haben, als er kapierte, dass der Mann in Boxershorts, der über die letzten drei Stufen sprang und jetzt direkt vor seinen Augen landete, der Saxofonist Tobias Wildenhain war, dem er noch vor Kurzem im festlichen Outfit bei seinem Konzert applaudiert hatte und der heute eher wie ein zerknittertes Notenblatt aussah. Sie standen sich wortlos gegenüber. Hallo Martin, sagte Tobias endlich. Hallo Tobias, schmunzelte er (noch schiefer), bist du auf Tournee? Ich habe euch Croissants mitgebracht. Guten Appetit! Als er einen Blick auf den Kleiderständer warf, war er versucht, den grünen Loden seines Vaters, Bodins Hausjacke und sein eigenes zerschlissenes Blouson auf den Boden zu schmeiÃen, eine kindische, symbolische Handlung, die er sich gerade noch verkneifen konnte.
Er fuhr in die Stadt zurück und sah vor sich seine Kindheit vorbeiziehen. Er sah, wie seine Mama mit dem Vater zu einem Silvesterball ausging, sie trug ein türkisfarbenes Abendkleid und einen dazu passenden seidenen Mantel, der ihr bis zu den Knöcheln reichte. Ihr Kopf und ihr langer Hals kamen wie aus einem gleiÃenden See hervor. Er sah, wie er, aus dem Kindergarten ausgerissen, allein mit einem Strauà aus weiÃen Blüten nach Hause zurückkam, die er unterwegs aus einem Busch in einem Vorgarten abgebrochen hatte. Seine Mama, die vom Kindergarten angerufen worden war, spähte in seine Richtung, stand aber still am Gartentor und nahm stumm den Strauà an. Dieses bei ihr verblüffende Schweigen hatte er nie vergessen. Sie drückte ihn spontan fest an sich, bevor sie ihn ohrfeigte und er aus Schmerz und Freude weinte. Jeden Nachmittag saà sie neben ihm bei den Hausaufgaben oder beim Klavier und strickte eine riesige Patchworkdecke, die erst fertig wurde, als er im Herbst ins Gymnasium kam. Er sah, wie sie aus dem Jagdbeutel seines Vaters mit einer Ekelgrimasse einen Fasan herausholte und ihn anschrie, er solle das Tier selbst rupfen und ausnehmen, das könne er ihr nicht zumuten (es folgte eine Liste der Zumutungen in ihrer Ehe), ihre Haushaltshilfe sei im Urlaub. Er sah, wie sie zu den Lehrersprechtagen aufgetakelt ankam und ihn mit ihren Vorträgen über seine »ungewöhnliche Sensibilität« beschämte, und er sah, wie sie zu Bodins Zeiten halb nackt die Treppen zum schellenden Telefon hinunterflitzte und er am Fuà der Treppe auflachte, weil Bodin sagte, ihre Titten tanzten French Can-Can, und wie plötzlich, als sie seine Gegenwart bemerkte, ihm das Lachen im Hals stecken blieb und er beschämt auf seine FüÃe schaute. Er hatte sich mit Bodin der Vulgarität schuldig gemacht, für seine Mutter eine schändliche Verfehlung. Er sah, wieder zum Kleinkind geworden, wie sie ihn vor der Dusche kniend einseifte und ein Finger unter dem Zipfelchen am Rumpfende seines schmächtigen Körpers hielt, als würde sie es wie ein seltsames Tier auf Lebensfähigkeit untersuchen, und besorgt den Kopf schüttelte, um schlieÃlich ihre Verwirrung mit einem Kuss auf seinen Bauch zu verbergen. Ihre Nase an seinem Nabel. Sie hatte Seife an der Stirn und sein Lachen perlte unter der Dusche. Er sah, wie sie barfuà in einem langen Fransenrock im städtischen Schwimmbad seinen Schwimmstunden beiwohnte, während er mühsam den Kopf über dem Chlorwasser hielt; und wie sie den Schwimmlehrer in lange Gespräche verwickelte, der dann vergaÃ, ihm im
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